Toxische epidermale Nekrolyse L51.2

Autoren: Prof. Dr. med. Peter Altmeyer, Prof. Dr. med. Martina Bacharach-Buhles, Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

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Zuletzt aktualisiert am: 04.12.2024

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Synonym(e)

Epidermolysis acuta toxica; Epidermolysis necroticans combustiformis; Lyell Syndrom:; Lyell-Syndrom; Lyell-Syndrom medikamentöses; medikamentöses; Nekrolyse toxische epidermale; SJS/TEN; Syndrom der verbrühten Haut; TEN; toxic epidermal necrolysis; Toxisch epidermale Nekrolyse

Erstbeschreiber

Lyell, 1956

Definition

Schwere Maximalvariante einer Arzneimittelreaktion, die durch eine großflächige Ablösung der Haut sowie der Schleimhäute, schwere systemische Begleiterscheinungen und durch eine hohe Mortalität (20-50%) gekennzeichnet ist. Das Risiko einer TEN ist zwischen dem 4. und 28. Tag nach Initiierung einer medikamentösen Therapie am höchsten. Die Erkrankung wird als Maximalvariante der epidermalen Nekrolyse (s.u. Stevens-Johnson-Syndrom) mit einem Mindestbefall von > 30% der Körperoberfläche aufgefasst.

Vorkommen/Epidemiologie

Inzidenz: Etwa 0,15-0,18/100.000 Einwohner/Jahr.

Gehäuft bei Patienten mit manifestem AIDS (Inzidenz liegt bei HIV-Infizierten bei 100/100.000 pro Jahr).

Ätiopathogenese

Die Pathogenese ist unbekannt. Klinische und histologische Ähnlichkeiten zu schweren kutanen Graft-versus-host-Reaktionen lassen eine gemeinsame Pathogenese vermuten. Nachweislich lösen verschiedene Medikamente wie Cotrimoxazol und andere Sulfonamide, Antiepileptika, Allopurinol (wahrscheinlich häufigste Ursache!), Oxicam (nichtsteroidales Antirheumatikum), Psychopharmaka, Antikonvulsiva (z.B. Phenytoin und Phenobarbital), Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (z.B. Fluoxetin) eine TEN aus.

Für die breit angewandten Medikamente wie Beta-Blocker, ACE-Hemmer, Calciumkanalblocker, Thiazide, Furosemid, Sulfonylharnstoffe und Insulin konnte kein Beweis für ein erhöhtes Risiko nachgewiesen werden.

Impfungen ( Masern, Mumps, Röteln) wurden vereinzelt in der Literatur als Auslöser beschrieben. Für spezifische Begleiterkrankungen wie HIV, Kollagenosen, Tumorerkrankungen, Strahlentherapie und akute Infekte innerhalb der letzten 4 Wochen konnte ein signifikantes Risiko errechnet werden.

Manifestation

Vorwiegend sind Frauen betroffen (bis zu 10mal häufiger als Männer).

Das Durchschnittsalter liegt bei 60-70 LJ.

Kinder und Jugendliche sind sehr selten betroffen.

Lokalisation

Meist sind Gesicht, Rumpf und die Streckseiten der Extremitäten betroffen.

Klinisches Bild

Zunächst feinfleckiges, später konfluiertes, großflächiges initial makulöses, in der Folgezeit makulo-papulöses und schließlich vesikulöses Exanthem. Weiterhin: flächenhafte Epidermisablösung (epidermale Nekrolyse) mit handtuchartig abschiebbarer Haut.

Frühe Beteiligung von Ober- und Unterlidern mit hämorrhagisch verkrustenden Erosionen.

Konjunktivitis mit Neigung zu Symblepharon-Bildung.

Mund - und Genitalschleimhaut: entzündlich gerötet, Erosionen, Ulzerationen, hämorrhagische Verkrustung, evtl. Verwachsungen.

Allgemein: Hohes Fieber, ggf. Somnolenz, Abgeschlagenheit

Häufig rasche Intensivpflichtigkeit!

Labor

Lymphopenische Leukozytose. Alpha- und Gamma-Globulinfraktion sind erhöht.

Histologie

Flächenhafte Nekrolyse der Epidermis mit intra- und subepidermaler Blasenbildung. Blaseninhalt ist meist hämorrhagisch. Weiterhin zeigen sich ödematisierte Dermis, epitheliotrope rundzellige Infiltrate und Vasodilatation.

Kryostatschnitt: Zur Schnelldiagnostik ist eine Biopsie mit einer frischen Blasendecke erforderlich, die von der gesamten Epidermis gebildet wird.

Differentialdiagnose

Staphylococcal Scalded Skin Syndrome: hier liegen intraepidermale Blasenbildung und daher deutlich geringere Blasendicke vor. Typisch ist das Fehlen einer Schleimhautbeteiligung. 

Erythema exsudativum multiforme (Major-Formen)

Paraneoplastischer Pemphigus.

Komplikation(en)

Haut: Vernarbungen, Pigmentstörung, Nagelwachstumsstörungen (Beau-Reilsche Querfurchen der Nägel, Nagelverlust). Diffuse toxische Alopezie (meist reversibel) (s. Alopezie). Bakterielle oder virale Infektionen der Haut. Gefahr der Sepsis mit Entwicklung eines Schocks und Multiorganversagen (häufigste Todesursache). Schleimhautveränderungen an Oropharynx, Genitale oder Analregion.

Augen: Initial mukopurulente Entzündung, Konjunktiva-Nekrose (Becherzellzerstörung, Verhornung), Hornhautulzera. Spätfolgen sind Vernarbungen mit Trichiasis, Keratokonjunktivitis sicca oder Synechien.

Nieren: Tubuläre Nekrose.

Lungen: Respiratorisches Versagen bei 40% der Betroffenen; bei 25-30% ergibt sich die Notwnedigkeit der mechanischen Beatmung.  

Magen-Darm-Trakt: Blutungen.

Blut: Leukopenie

sonstige Parameter: Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Proteinverluste.

Therapie allgemein

Allgemeine Richtlinien zur Therapie der TEN:

Intensivpflege in entsprechend eingerichteten Therapieeinheiten.

Absetzen der infrage kommenden Medikamente.

Isolierung/Infektionsschutz (Schleuse einrichten).

Aseptische Schutzkleidung: Schutzkittel, Mundschutz, Handschuhe für ärztliches und pflegerisches Personal.

Ausreichende Wärmezufuhr (exakte Temperaturregelung).

Auf ausreichenden Feuchtigkeitsgehalt der Zimmerluft achten.

Spezialbett zur Dekubitusprophylaxe verwenden und Lagerung auf Metallinefolie.

Ggf. Blasenkatheter legen, Urin- u. Flüssigkeitsbilanzierung.

Dokumentation der erhobenen Befunde (Ausdehnung, Schweregrad auf Intensivbehandlungsbögen).

Tgl. Abstriche der Wundflächen vornehmen (Kultur mit Resistenzverhalten; Gefahr durch Pseudomonasbesiedlung und andere Superinfektionen).

Therapie der Komplikationen (Sepsis, Blutungen).

Externe Therapie

Zur Senkung des Infektionsrisikos sollte eine regelmäßige antiseptische Wundbehandlung mit antiseptischen Lösungen oder Gelen erfolgen. Die Antiseptika sollten erwärmt werden. empfehlenswert sind Lösungen mit Polihexanid und Octenidin.

  • Bei geringflächiger Hautablösung sollte die Epidermis in situ belassen werden.
  • Bei Blasenbildung sollten diese durch Punktion entlastet werden. Die Blasendecke verbleibt in situ.
  • Bei großflächiger Hautablösung sollte eine vorsichtige Abtragung der abgelösten Haut erwogen werden.

Wenn keine systemische Therapie mit Glukokortikoiden erfolgt, können topische Glukokortikoidexterna für eine Höchstdauer von 5 Tagen aufgetragen werden (Glukokortikoide Klasse III/IV bei Erwachsenen und Kortikoide Klasse III bei Kindern und Jugendlichen). Sie sollten in läsionalen jedoch noch nicht erodierten Hautarealen aufgetragen werden.

Zur Behandlung erodierter Stellen der Haut soll eine Lagerung auf aluminiumbedampften Vliesstoffen wirkstofffreier nicht haftender Silikondistanzgitter oder fetthaltiger Netzgaze zur Wundabdeckung erfolgen. Auch silberhaltige Topika und Wundauflagen kommen in der Akutversorgung zum Einsatz (Silbersulfadiazin). Einschränkend ist eine erhöhte Absorptionsgefahr silberhaltiger Partikel anzuführen (Kontrolle der Leukozyten, Leber- und Nierenwerte) sowie bei Einsatz von Silbersulfadiazin der V.a. ursächliche Auslösung der toxischen Epidermolyse durch Sulfmethoxazol oder Sulfasalazin.  

Die Häufigkeit der topischen antiseptischen Behandlung orientiert sich an der Häufigkeit der Verbandswechsel.

Topische Antibiotika und antibiotische Wundwaschungen sind zu vermeiden.

Lippen- und Mundschleimhautbeteiligungen (häufiger Befall): Auf die erosiven Lippenhaut sollte mehrfach täglich weißes Paraffin oder eine Dexpanthenol-haltige Salbe aufgetragen werden. Alternativ wäre weißes Bienenwachs oder eine lokalanästhetische Salbe angezeigt. Antiseptische Mundspülungen sollten regelmäßig erfolgen. Ergänzend sind Spülungen mit Dexpanthenol- oder Salbeilösungen sinnvoll. Eine prophylaktische Gabe von Antibiotika oder antiviralen Substanzen ist nicht erforderlich.

Augenbeteiligungen (50-80%ige Beteiligung): Zur Pflege der okulären Oberflächen sollen unabhängig vom Schweregrad tagsüber 1-2stündlich konservierungsmittelfreie Benetzungsmittel verwendet werden. Zur Nacht pflegende Augensalben. Bei intakter Augenoberfläche sollte ein konservierungsmittelfreies topisches Kortikosteroid (z.B. 1%iges Prednisolon) aufgetragen werden. Sollte eine anti-inflammatorische topische >2-4 Wochen notwendig werden, empfiehlt sich eine Umstellung auf topische Calcineurininhibitoren (Ciclosporin  A, Tacrolimus).

Genitalbeteiligungen (bis zu 70%ige Beteiligung): Bei Patienten mit erosiver Beteiligung der Genitalschleimhaut oder Dysurie soll eine Harnwegskatheter (Foley-Katheter) gelegt werden. Sanfte Reinigung des urogenitalen Bereichs mit sterilem Wasser und physiologischer Kochsalzlösung. Eine schützende Basispflege(z.B. weiße Paraffinsalbe) sollte mehrfach täglich erfolgen. Topische Kortikoidexterna können für eine Höchstdauer von 5 Tagen aufgetragen werden (Glukokortikoide Klasse III/IV bei Erwachsenen und Kortikoide Klasse III bei Kindern und Jugendlichen). Sie sollten in läsionalen jedoch noch nicht erodierten Hautarealen appliziert werden. Empfehlenswert ist das Abdecken der Läsionen mit nicht-haftenden Fettgazen.

Bei Beteiligung des weiblichen Genitale sollten zur Vermeidung von Synechien Vaginalstents/-phantome eingesetzt werden. Eine menstruelle Suppression kann erwogen werden.

Analregionbeteiligung: Antiseptische Sitzbäder z.B. mit Kaliumpermanganat (hellrosa) sowie Glukokortikoid-Cremes (s.o.). Passagere Gabe von milden Laxantien zur Stuhlerweichung.Ggf. Umstellung auf passierte Kost oder Flüssigkost; ggf. parenterale Ernährung, falls erforderlich.

Cave! Augenbeteiligung: Behandlung durch Ophthalmologen. Symblepharon-Bildung ist möglich!

Interne Therapie

Glukokortikoide: Der Einsatz von systemischen Glukokortikoiden wird kontrovers diskutiert. Einige Studien weisen auf eine schlechtere Prognose bei hoch dosierter Glukokortikoid-Medikation hin. Eine kurzfristige Stoßtherapie wird dennoch immer noch empfohlen (1000-250-100-20 mg Prednisolon am 1. bis 4. Tag i.v.). Ulkusprophylaxe mit Ranitidin (z.B. Zantic) 150 mg/Tag.

Ciclosporin A: Bisher kontrovers diskutiert, konnten in einer größeren spanischen Studie (n=26 Pat.) gegenüber einem nicht mit Ciclosporin A-behandelten Kollektiv (IVIG-Therapie) eine signifikante Absenkung des Mortalitätsrisikos nachgewiesen werden (Gonzales-Herrada C et al. (2017).     

IVIG: Initial 1,0 g/kg KG für 4 Tage und Erhaltungstherapie von 0,5 g/kg KG (4-Wochenrhythmus) über mehrere Monate bei Therapieresistenz anderer Regime. Datenlage: Die Effizienz der IVIG-Therapie wird auf der Basis von Evidenzlevel IIA Studien kontrovers diskutiert.

Antibiotika (nur bei Superinfektion): Antibiotische Abdeckung mit Cephalosporinen wie Cefotaxim (z.B. Claforan) 2mal/Tag 2 g i.v., ggf. in Kombination mit Gentamicin (z.B. Refobacin) 240 mg/Tag i.v. Tgl. Abstriche an den Wundflächen und ggf. Umstellung der Antibiose nach Antibiogramm.

Schmerztherapie: Die Analgesie sollte nach der allg. Empfehlung der beahndlung perioperativer und posttraumatischer Schmerzen erfolgen. Angezeigt sind: Morphin (z.B. MST Tbl.) 10-30 mg alle 8 Std. oder Opioide wie Tramadol (Tramal) 100 mg alle 4-6 Std. (max. 400 mg/Tag).

Flüssigkeitsbilanzierung: Bei schweren Verläufen Bilanzierung von Flüssigkeit und parenterale Ernährung einleiten. Dosierungsschema pro Tag:

  • Kolloidale Lösung 1 ml/kg KG x befallene KO.
  • Elektrolytlösung (physiologische Kochsalzlösung) 1 ml/kg mal befallene KO.
  • Bei Stabilisierung: Übergang auf hochkalorische Flüssigkost (z.B. Meritene). Später Diät mit passierter Nahrung; keine Gewürze, keine Fruchtsäuren.

Merke! Regelmäßig intravenöse Zugänge kontrollieren (hohe Kontaminationsgefahr)!

  • Merke! Bei Glukokortikoid-Gabe und der Therapie mit Ciclosporin A, muss eine bakterielle Ursache der TEN (Staphylogenes Lyell-Syndrom) sicher ausgeschlossen sein!

 

Verlauf/Prognose

Die Letalität beträgt ca. 20-25%, in kleineren Studien bis zu 60%. Intensivmaßnahmen sind notwendig. Die Hautveränderungen heilen meist ohne Narben ab. Durch Bastuji-Garin et al. wurde ein Score erarbeitet, der eine prädiktive Aussage zur Mortalität erlauben soll - s.u. SCORTEN.

Hinweis(e)

Merke! Meldung an das Dokumentationszentrum schwerer Hautreaktionen, Universitäts-Hautklinik Freiburg, Hauptstr. 7, 79104 Freiburg. Web: http://www.ukl.uni-freiburg.de/haut/dzh/homede.htm

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

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Zuletzt aktualisiert am: 04.12.2024