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Angioödeme (Übersicht)T78.3
Synonym(e)
Erstbeschreiber
Marcello Donati 1586; Milton 1876; Heinrich Irenäus Quincke 1882; Dinkelacker 1882; William Osler 1888. Heinrich Irenäus Quincke war 1882 sicher nicht der wirkliche Erstbeschreiber des Angioödems. Diese Ehre gebührt dem großen italienischen Arzt Marcello Donati (nicht zu verwechseln mit Mario Donati dem ebenfalls in Mantua geboren großen italienischen Chirurgen, der uns, die allen bekannte Rückstichnaht lehrte), der das Angioödem vor genau 466 Jahren in „De medica historia mirabili“ einer umfangreichen Sammlung klinischer Fälle und persönlicher anatomischer Beobachtungen, einer Art Zusammenstellung umfangreicher klinischer Fallgeschichten beschrieb. Marcello Donati begann sein Medizinstudium in Mantua bei Francesco Facini, dem Arzt des Herzogs Guglielmo Gonzaga, als Lehrer. Er setzte es später in Padua fort, wo er 17. Juli 1560 abschloss. An dieser Universität wurde innerhalb weniger Jahre, von 1543 bis 1546, die Demonstrationsmethode in Anatomie, Botanik und Klinik eingeführt und die Grundlagen der modernen Epidemiologie und Pathologie gelegt. Donati beschrieb unter anderem als Erster das Ulcus ventriculi bei einer Leiche und eben das Angioödem. Ob Heinrich Irenäus Quincke diese Literatur kannte, wissen wir nicht.
Quincke wurde 1842 in Frankfurt/Oder in eine Medizinerfamilie hineingeboren. Er begann bereits mit 16 Jahren mit dem Medizinstudium, zunächst in Berlin, später in Würzburg und Heidelberg. 1863 promovierte er in Berlin und bestand dort 1864 das medizinische Staatsexamen. Nach einer ausgedehnten Bildungsreise, die ihn nach Wien, Paris und London führte, und einer kurzzeitigen chirurgischen Tätigkeit nahm er mit 26 Jahren die internistische Ausbildung an der Charité in Berlin bei Friedrich Theodor von Frerichs auf, bei dem er sich auch 1870 habilitierte.
Definition
Polyätiologische, akute, einmalige oder in unregelmäßigen Abständen rezidivierende, 1-7 Tage persistierende, hereditäre oder erworbene, schmerzhafte oder brennenende, Schwellungen (Ödeme) der Kutis/Subkutis und/oder der Mukosa/Submukosa. Lebensbedrohlich können Schwellungen des Pharynx und/oder des Larynx sein. Besonders auffällig sind Gesichtsschwellungen, da sie zu erheblichen Entstellungen führen (s.a. Angioödem der Kopf-Halsregion).
Einteilung
Aufgrund unterschiedlicher Pathomechanismen werden die Angioödeme grundsätzlich unterteilt in:
Histamin-vermittelte Angioödeme ohne C1-INH-Mangel (T78.3):
- Teilbild oder Äquivalent einer Urtikaria.
Hereditäre Angioödeme (C1-INH-HAE/Kinin-vermittelte Angioödeme/Mutationen in SERPING1-Gen)
- HAE Typ I: Angioödem hereditäres Mutation in SERPING1/ häufigste Form (85% der Fälle). Ein normales und ein Null-Allel des Strukturgens sind vorhanden. Autosomal-dominanter Erbgang. Die Synthese des C1-Esterase-Inhibitors ist vermindert, sein Umsatz erhöht.
- HAE Typ II: Angioödem hereditäres Mutation in Serping1/ Auftreten in ca. 15% der Fälle. Funktionell inaktiver C1-INH in normaler Konzentration im Plasma; funktionell aktiver C1-INH in erniedrigter Konzentration.
Hereditäre Angioödeme (nC1-INH-HAE/keine nachweisbare Mutation im SERPING1-Gen. HAEs mit normalem C1-INH. Normale C1-INH Konzentration und Funktion)
- HAE TypIII: Angioödem hereditäres Mutation in F12/F12-HAE/Defekt im Faktor-XII-Gen
- HAE TypIV: Angioödem hereditäres Mutation in PLG/PLG-HAE/Defekt im Plasminogen-Gen)
- HAE Typ V: Angioödem hereditäres Mutation in ANGPT1/ANGPT1-HAE/Defekt im Angiopoietin-1 -Gen
- HAE Typ VI: Angioödem hereditäres Mutation in KNG1/KNG1-HAE/Defekt im Kininogen-1-Gen
- HAE Typ VII: Angioödem hereditäres Mutation in MYOF/MYOF-HAE/Defekt im Myoferlin-Gen
- HAE Typ VIII: Angioödem hereditäres Mutation in HS3ST6 /HS3ST6-HAE/ Defekt im Glucosamin 3-O-Sulfotransferase 6-Gen
- HAE Typ U: Angioödem hereditäres mit noch unbekannter Mutation /U-HAE
Erworbene bradykininvermittelte Angioödeme mit C1-INH-Mangel (AAE):
- Typ 1 (acquired angioedema, AAE I/erhöhter Katabolismus des C1-INH)): Teilweise mit lymphoproliferativen malignen Erkrankungen einhergehend, z.B. mit malignen Lymphomen.
- Typ 2 (AAE II/Autoimmuntyp)): wie AAE I; nachweisbare Antikörper gegen C1-INH.
Erworbene bradykininvermittelte Angioödeme ohne C1-INH-Mangel (AAE):
- Pharmakologisch induzierte (medikamentöse Hemung des Renin-Angiotensin-Systems/ACE-Hemmer/Angiotensin-II-Rezeptorblocker)
Sonstige (erworbene) Angioödeme:
- Pseudoallergisches Angioödem (PAE) z.B. durch Aspirin
- Idiopathisches Angioödem (IAE) (Ausschlussdiagnose)
- Traumatisches Angioödem (s.u. Angioödem, vibratorisches)
- Angioödem, episodisches mit Eosinophilie (Gleich-Syndrom).
Ätiopathogenese
Bei dem erworbenen Mastzellenmediatoren (histamin-) vermittelten Angioödemen (ohne C1-INH-Mangel) werden häufig Typ I-Reaktionen oder Intoleranzreaktionen auf Nahrungsmittel, Nahrungsmitteladditiva, verschiedene Medikamente (v.a. Antiphlogistika, nichtsteroidale) sowie additiv wirkende physikalische Stimuli als auslösende Faktoren identifiziert. Häufig jedoch bleibt die Ätiologie ungeklärt. Weiterhin diskutiert werden auch Fokusgeschehen und psychovegetative Störungen.
Grundsätzlich führen folgende pathogenetische Mechanismen zum klinischen Bild des Angioödems:
- Wie bei der Urtikaria sind alle Antigene, die eine Typ-I- oder eine Typ-III-Immunreaktion mit Mastzelldegranulation hervorrufen können mögliche Verursacher. Klinisch können weitere anaphylaktische Symptome bestehen von der Urtikaria bis zum Schock.
- Hereditärer oder erworbener Defekt des C1-Esteraseinhibitors (s.u. Angioödem, erworbenes/C 1 -Esteraseinhibitor-Mangel und Angioödem, hereditäres. Bei den hereditären Angioödemen wurde die Beteiligung weiterer Gene neben dem Serping1-Gen erst 2006 mit der Beschreibung von Mutationen im F12-Gen bei Patienten mit HAE und normalem C1-INH entdeckt. In den letzten drei Jahren ermöglichten fortschrittliche Sequenzierungstechniken der nächsten Generation die Identifizierung von Mutationen in fünf neuen Genen, die mit HAE und normalem C1-INH in Verbindung gebracht werden: ANGPT1 (Angiopoietin-1), PLG (Plasminogen), KNG1 (Kininogen), MYOF (Myoferlin) und HS3ST6 (Heparansulfat-Glucosamin-3-O-Sulfotransferase 6).
- Eine weitere Möglichkeit, die zum Auftreten von Angioödemen führt, wurde wiederholt bei der Einnahme von ACE-Hemmern (z.B. Captopril) beschrieben. Vermutlich ist die Hemmung des Bradykininabbaus unter ACE-Blockade dafür verantwortlich, s. Angioödem, erworbenes, ACE-Hemmer-induziertes.
Manifestation
Allergisches Angioödem: Inzidenz der schwergradigen Anaphylaxie: 1–3:10.000 Einwohner pro Jahr, davon knapp 50% mit Angioödem
Viszerales Angioödem: Das viszerale Angioödem kann mit oder ohne Beteiligung der Haut und der oberen Atemwege einhergehen. Die Erkrankung ist bradykininvermittelt. Eine anaphylaktische Therapie ist insofern nicht indiziert.
Angioödem der Kopf-Halsregion:
Urtikaria-assoziiertes Angioödem: Prävalenz der chronisch rezidivierenden Urtikaria: 1–5% , davon >50% mit Angioödem
Idiopathisches Angioödem: Keine genauen Zahlen
ACE-Hemmer-induziertes Angioödem: Prävalenz: 0,2–0,7% der behandelten Patienten. Menschen mit einer dunkleren Hautfarbe haben ein 3-fach erhöhtes Risiko.Manifestationsalter: I.d.R. ab dem 50. Lebensjahr
Hereditäres Angioödem mit C1-INH-Mangel:
- Inzidenz: Ca. 1,5:100.000 Einwohner pro Jahr
- Prävalenz: 1:50.000 Einwohner
- Alter bei Erstmanifestation häufig ≤10 Jahre
- Geschlecht: ♂ = ♀
Hereditäres Angioödem ohne C1-INH-Mangel: Sehr selten. Fast immer ist das weibliche Geschlecht betroffen.
Lokalisation
Klinisches Bild
Diffuse, blasse, eher brennende oder schmerzhafte (meist nicht juckende), teigig-ödematöse Schwellung der Haut und Schleimhaut, rüsselförmige vorgewölbte Lippen, geschwollene Augen, evtl. plötzlich einsetzendes Glottisödem.
Histologie
Differentialdiagnose
Allergisches Kontaktekzem: epidermale Komponente mit Schuppung evtl. Nässen
Ascher-Syndrom (selten): Nach dem 5. Lebensjahr wiederholtes Auftreten schmerzloser Oberlid- und Oberlippenschwellungen, Blepharochalasis durch prolabiertes Orbitalfett und Tränendrüsengewebe. Doppellippe; meist ist die Oberlippe, selten die Unterlippe betroffen. Die Kombination der Symptome festigt die Diagnose.
Gleich-Syndrom (selten): schweres Angioödemen, Urtikaria, hohe periphere (primäre) Eosinophilie (bis > 50.000/ul).
Erysipel: schmerzhaftigkeit, Fieber, Leukozytose , schmerzhafte Lymphadenopathie
Zoster: segmentale Anordnung; Bläschen, Schmerzhaftigkeit
Melkersson-Rosenthal-Syndrom (persistierender Schwellungszustand, derbe Konsistenz, evtl. Fazialisparese)
Therapie
Hinweis(e)
Weitere Informationen bietet die Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Angioödeme e.V.
Praxisnahe Empfehlungen bei Angioödemen n. Bork (Leitlinie hereditäres Angioödem)
- jeder Patient mit einem HAE durch C1-INH-Mangel sollte mit einem mehrsprachigen Notfallausweis ausgestattet sein (erhältlich bei der Firma Behring GmbH, Philipp-Reis-Straße 2, 65795 Hattersheim).
- Alle Patienten sollten als Notfallmedikament C1-INH- Konzentrat oder Icatibant für zwei Dosierungen zuhause vorrätig halten, sowie bei Reisen mit sich führen. Patient und Krankheitszeiten sollten im nächstgelegenen Krankenhaus bekannt sein.
- Lehrer betroffener Schulkinder sollten darüber informiert sein, dass akute Attacken auftreten können.
- Vor zahnärztlichen Operationen, auch Zahnextraktionen sowie anderen Operationen im Mund-Rachen-Bereich sollten Patienten mit HAE durch C1-I NH-Mangel 1 Stunde vor dem Eingriff 500-1000 U C1-I NH-Konzentrat erhalten. Für die Kurzzeitprophylaxe ist seit Juni 2011 das nanofiltriertes C1-I NH-Konzentrat zugelassen.
Literatur
- Anliker MD et al. (2003) Acute urticaria and angioedema due to ehrlichiosis. Dermatology 207: 417-418
- Bas M et al. (2007) Nonallergic angiooedema: role of bradykinin. Allergy 62: 842-856
- Bork K et al. (2012) Hereditäres Angioödem durch C1-Inhibitor-Mangel. Allergo J 21: 109-118
- Bouillet L et al. (2003) Angioedema and oral contraception. Dermatology 206: 106-109
- Pirker C et al. (2003) Angioedema and dysphagia caused by contact allergy to inhaled budesonide. Contact Dermatitis 49: 77-79
- Quincke HI (1882) Über akutes umschriebenes Hautödem. Mhefte prakt Dermatol (Hamburg) 1: 129-131
- Zuberbier T (2013) Allergologie State of the Art. Kompendium Dermatologie 9: 19-22