Angioödem hereditäres, Mutation in PLGD84.1
Synonym(e)
Definition
Das hereditäre Angioödem-4 (HAE4) ist eine autosomal-dominante Erkrankung, die durch episodische subkutane oder submuköse Ödeme gekennzeichnet ist und in der Regel erst im Erwachsenenalter auftritt (s.a. Angioödeme/Übersicht).
Verursacht wird das hereditäre Angioödem-4 (HAE4) durch eine heterozygote Mutation im PLG-Gen (173350) das auf Chromosom 6q26 lokalisiert ist. Eine häufige Mutation ist die K330E-Mutation im PLG-Gen (173350.0011).
Vorkommen/Epidemiologie
Obwohl die Störung autosomal dominant ist, gibt es Hinweise auf eine unvollständige Penetranz, eine variable Ausprägung und ein Überwiegen von Frauen.
Ätiopathogenese
Es wird angenommen, dass die Pathogenese auf eine veränderte Plasminfunktion zurückzuführen ist, die zu einer erhöhten Freisetzung von Bradykinin führt. Bemerkenswerterweise traten bei 14 % der betroffenen Frauen die ersten Symptome nach Einnahme oraler Kontrazeptiva auf. Bei anderen Patienten kann die Auslösung der Symptome kann durch die Einnahme von ACE-Hemmern oder Angiotensin-II-Rezeptorblockern erfolgen.
Manifestation
Das mittlere Alter beim Auftreten der Symptome beträgt 30,5 Jahre (5-72 Jahre) (Bork K et al. 2018)
Labor
Die Werte und die Funktion des zirkulierenden C1-Inhibitors (C1INH) sowie die Plasminogenwerte und -aktivität sind normal.
Molekulargeentik: Bei 60 Patienten aus 13 nicht verwandten Familien europäischer Abstammung mit HAE4 identifizierten Bork et al. (2018) eine heterozygote Missense-Mutation im Exon 9 des PLG-Gens (K330E; 173350.0011). Die Mutation, die durch Ganz-Exom-Sequenzierung oder Next-Generation-Sequenzierung gefunden und durch Sanger-Sequenzierung bestätigt wurde, segregierte mit der Störung in den Familien. Dewald (2018) identifizierte bei 18 Patienten aus drei nicht verwandten deutschen Mehrgenerationenfamilien mit HAE4 Heterozygotie für die K330E-Mutation im PLG-Gen. Bei der isoelektrischen Fokussierung von Patientenplasma wurden PLG-Proteinbanden identifiziert, die sich von denen der Kontrollen unterschieden. Die Ergebnisse legen nahe, dass die Mutation einige quantitative und qualitative Auswirkungen auf die Glykosylierung von Plasminogen hat. Die K330E-Substitution befindet sich in der für die Bindung wichtigen sog. Kringle-3-Domäne, die Plasminogen oder Plasmin die Interaktion mit anderen Proteinliganden ermöglicht. Es wird vermutet, dass die Mutation die Affinität von Bindungspartnern beeinflussen und somit funktionelle Auswirkungen haben könnte, insbesondere auf den Kinin-Signalweg, der die zirkulierenden vasoaktiven Substanzen reguliert. Belbezier et al. (2018) identifizierten die K330E-Mutation bei 10 Patienten aus 3 nicht verwandten französischen Familien mit HAE4. Farkas et al. (2021) berichteten über eine 60-jährige Frau mit HAE4 und der häufigen K330E-Mutation. Sie wurde aus 124 Patienten mit HAE unbekannter Herkunft identifiziert. Ihr Sohn, der ebenfalls die K330E-Mutation trug, war asymptomatisch.
Therapie
Eine erfolgreiche klinische Behandlung wurde mit Tranexamsäure, die Plasmin hemmt, und Ikatibant, einem selektiven Bradykinin-B2-Rezeptor-Antagonisten (113503), erreicht (Zusammenfassung bei Farkas et al., 2021).
Verlauf/Prognose
Die mittlere Dauer der Angioödem-Episoden beträgt nach einer größeren Studie 20,6 Jahre (Bork K et al. 2018)
Fallbericht(e)
Bork et al. (2018) berichteten über 18 betroffene Personen aus 4 nicht verwandten Mehrgenerationenfamilien (Familien A-D) mit hereditärem Angioödem und normalen C1INH-Spiegeln. In der Folge wurden 9 weitere nicht verwandte Probanden identifiziert, so dass sich insgesamt 60 symptomatische Patienten aus 13 Familien ergaben. Es handelte sich um 47 betroffene Frauen und 13 betroffene Männer. Das mittlere Alter beim Auftreten der Symptome betrug 30,5 Jahre (Spanne 5-72 Jahre), und die mittlere Dauer der Angioödem-Episoden betrug 20,6 Jahre (Spanne 1-72 Jahre). Die Patienten hatten wiederkehrende Schwellungen der Haut, die meist das Gesicht, die Lippen und die Zunge betrafen; manchmal war auch der Kehlkopf betroffen. Zungenschwellungen traten häufig auf und waren manchmal mit Dyspnoe, Stimmveränderungen und drohender Erstickung verbunden. Zwei Frauen starben im Alter von 36 bzw. 47 Jahren an Erstickungsanfällen aufgrund von Zungenschwellungen mit Obstruktion der oberen Atemwege. Bei einigen Patientinnen traten Schwellungen an Armen oder Händen, Füßen oder Beinen sowie am Bauch auf; keine hatte Schwellungen im Genitalbereich. Bei 14 % der Frauen traten die ersten Symptome auf, nachdem sie mit der Einnahme oraler Kontrazeptiva begonnen hatten, was auf einen Östrogeneinfluss hindeutet, obwohl der Beginn oder die Verschlimmerung der Krankheit während der Schwangerschaft nicht berichtet wurde. Die Plasminogenaktivität lag bei 3 Frauen im Normalbereich. Zwei Patientinnen wurden erfolgreich mit Tranexamsäure behandelt, die ein Antifibrinolytikum ist und Plasmin hemmt. Diese Ergebnisse deuten auf eine Rolle der Fibrinolyse bei der Pathogenese der Krankheit hin.
Dewald (2018) berichtete über drei nicht verwandte deutsche Mehrgenerationenfamilien, in denen insgesamt 13 Frauen und 5 Männer an HAE erkrankt waren. Die klinischen Details waren begrenzt, aber alle hatten wiederkehrende Episoden von Angioödemen, die oft die Zunge betrafen. Die Werte des C1-Inhibitors waren normal.
Yakushiji et al. (2018) berichteten über zwei nicht verwandte japanische Familien, in denen jeweils zwei Mitglieder HAE4 hatten. Bei der Probandin in Familie 1 handelte es sich um eine 97-jährige Frau, bei der das Angioödem der Zunge erstmals im Alter von 94 Jahren auftrat. Sie hatte einen ACE-Hemmer eingenommen und setzte ihn ab. 3 Monate später trat ein zweites Mal ein Angioödem auf, das aufgrund eines Atemwegsverschlusses intubiert werden musste. Ihr 65-jähriger Sohn hatte nach einer Operation im Alter von 35 Jahren ein einziges Mal ein Lippenangioödem. Berichten zufolge waren mehrere andere Familienmitglieder betroffen, die jedoch entweder verstorben sind oder einer genetischen Untersuchung nicht zugestimmt haben. Die Probandin in der zweiten Familie war eine 46-jährige Frau, bei der das Angioödem erstmals im Alter von 26 Jahren auftrat. Im Laufe der Jahre hatte sie zahlreiche Anfälle, die in der Regel die Zunge und das Gesicht, seltener den Kehlkopf oder den Bauch betrafen und die durch Reisen oder Schlafmangel ausgelöst werden konnten. Sie wurde erfolgreich mit Tranexamsäure behandelt. Eine ältere Schwester hatte 2 Anfälle während einer Zahnbehandlung, die ohne Behandlung abklangen. Alle hatten normale C1-Inhibitorwerte.
Belbezier et al. (2018) berichteten über 10 Patienten aus drei nicht verwandten französischen Familien mit HAE4. Sieben Patienten waren Frauen. Das mediane Alter bei Beginn der Erkrankung betrug 23 Jahre (Spanne 6-64 Jahre) mit einer medianen Verzögerung der Diagnose von 24 Jahren (Spanne 5-47 Jahre). Die meisten hatten Anfälle im Gesicht, an den Lippen, im HNO-Bereich, an der Zunge und im Bauchraum. Die Extremitäten waren nicht betroffen. C1INH war bei allen normal, und die Plasminogenaktivität war bei allen bis auf einen Patienten normal. Vier Patienten berichteten über eine Auslösung durch die Einnahme von ACE-Hemmern oder Angiotensin-II-Rezeptorblockern. Orale Verhütungsmittel verschlimmerten die Anfälle bei 2 Patienten. Eine Langzeitprophylaxe mit Tranexamsäure war bei 2 Patienten wirksam. Icatibant führte ebenfalls zu einer klinischen Verbesserung.
Farkas et al. (2021) berichteten über eine 60-jährige Frau mit HAE4, die die häufige K330E-Mutation im PLG-Gen (173350.0011) trug. Sie hatte ihre erste Episode im Alter von 17 Jahren und war in den folgenden 20 Jahren symptomfrei, bis sie aufgrund von Bluthochdruck einen ACE-Hemmer einnahm, der mit einer Reaktivierung der Episoden verbunden war. Die Erkrankung, die sich hauptsächlich in Form von rekurrierenden Ödemen der Zunge, des Gesichts und des Kehlkopfs manifestierte, war auch in ihrer Familie bekannt. Ihr Sohn, der ebenfalls die K330E-Mutation trug, war asymptomatisch.