Synonym(e)
Definition
Die Polycythaemia vera stellt eine autonome Erythrozytenvermehrung dar. Sie zählt zusammen mit der primären der essenziellen Thrombozythämie, und der primären Myelofibrose zu den Philadelphia-Chromosom-negativen chronisch myeloproliferativen Erkrankungen. Es kommt zu einer Vermehrung von Erythrozyten, teilweise auch der Granulozyten und/oder Thrombozyten. Die daraus resultierende Steigerung des Hämatokrits führt zu einem erhöhten Risiko für thromboembolische Komplikationen (s.u. Thrombosen).
Einer schwedischen Studie nach haben PV-Patienten in den ersten 3 Therapiemonaten nach der Diagnose ein 3-fach erhöhtes Risiko für eine arterielle Thrombose und ein 13-fach erhöhtes Risiko für eine Venenthrombose im Vergleich zur Kontrollgruppe gleichen Geschlechts und Alters (Griesshammer M et al. 2019). Generische Risikofaktoren wie immobiler Lebenswandel, Diabetes mellitus und Nikotinabusus erhöhen das Thromboserisiko im Verlauf einer Polycythaemia vera zusätzlich (Cerquozzi S et al. 2017). Dabei treten Thromboembolien (TE) in über 55 % der Fälle in atypischen Gefäßen auf und werden somit unter Umständen erst spät erkannt.
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Ätiopathogenese
Die Ätiologie ist unbekannt.
Genetik: Vorliegend ist eine somatische Mutation des JAK2-Gens (JAK2V617F) im Exon 14 (etwa 95% der Patienten) oder die seltene somatische JAK2-Mutation im Exon 12 (etwa 5% der PV-Patienten). Das Thromboserisiko wird durch JAK2-induzierte Veränderungen von Oberflächenproteinen der Erythrozyten begünstigt. Daneben können funktionell veränderte Thrombozyten zu Blutungen und Thrombosen führen. Da Erythrozyten keinen Zellkern besitzen, erfolgt der Nachweis der Mutation im peripheren Blut über Granulozyten-DNA.
Pathogenese der PV: vorliegend ist eine Transformation einer hämatopoetischen Stammzelle, die zu einer Hyperplasie aller 3 Zellreihen des Knochenmarks führt. Die Erythrozytenvorläufer des Knochenmarks von Patienten mit PV proliferieren in vitro spontan ohne Zusatz von Erythropoetin. Der EPO-Wert ist bei den meisten Patienten erniedrigt.
Bemerkung: JAK2 ist eine zytoplasmatische Tyrosinkinase, die an der Signaltransduktion verschiedener Zytokine (unter anderem am EPO-Rezeptor) beteiligt ist. Die Mutation verstärkt die Aktivität der Tyrosinkinase JAK2 und führt damit zu EPO-unabhängigem Wachstum. Die JAK2-Gen - Mutation ist eine somatische Mutation die somit in der Keimbahn nicht nachweisbar ist.
Klinisches Bild
Wegen des schleichenden Beginns lassen sich anamnestisch erste Beschwerden oft 2-3 Jahre nach Diagnosestellung zurückverfolgen.
Kopfschmerzen, Schwächegefühl, Juckreiz, Schwindel: 40-50%
Schweißneigung, Sehstörungen, Tinnitus, Gewichtsverlust, Kribbelparästhesein in den Akren: 30-40%
Dyspnoe, Gelenkbeschwerden, Oberbauchbeschwerden: 20-30%
Weiterhin kommt es bei etwa 70-80% zu einer Hypertonie; bei 50% der Patienten kann eine Splenomegalie, bei 40% eine Hepatomegalie nachgewiesen werden.
PV und Hautveränderungen:
- Bei etwa 40 % der Patienten tritt ein aquagener Pruritus auf.
- Plattenepithelkarzinome (Aktinische Keratosen): hierbei prädisponieren Alter (>50 Jahre), weibl. Geschlecht, Langzeittherapie mit Busulphan bzw. Hydroxycarbamid.
- Ulzera der Haut (meist als Ulcus cruris auftretend): Hartnäckige und therapieresistente Ulzera der unteren Extremität werden unter oder im Gefolge der Therapie mit Hydroxyharnstoff gefunden (s.Ulkus der Haut). Hier bietet sich eine Therapieumstellung auf Ruxolitinib (Jakafi®) an.
- Erytheme: Flächige sattrote Rötungen von Haut (Gesicht - scheinbar gesundes Aussehen) und Schleimhäuten (Lippen blau-rot zyanotisch) finden sich bei 60-70% der Patienten.
- Seltener sind Ekchymosen, Ekzeme, urtikarielle Effloreszenzen und Urtikariavaskulitis,
- weiterhin: knotenförmige, blaurote, schmerzhafte Infiltrate der Haut (extramedulläre Hämatopoese),
- In Einzelfällen beschrieben sind: Eosinophile Fasziitis, Sweet-Syndrom, Erythromelalgie
Diagnose
Bei einem dauerhaft erhöhten Hämatokrit (52 % bei Männern, 48 % bei Frauen) mit normaler Sauerstoffsättigung ist eine Erythropoietin-Bestimmung und eine JAK2V617F-Mutationsanalyse durchzuführen. Ist die Mutation homozygot vorhanden und der Erythropoietin-Spiegel erniedrigt, ist die PV gesichert.
Ist die JAK2V617F-Mutation nicht vorhanden und der EPO-Spiegel erniedrigt, sollte ein Nachweis der JAK2- Mutation im Exon 12 geführt werden.
Werden die JAK2-spezifischen Mutationen nicht nachgewiesen und ist der EPO-Spiegel normal oder erhöht, ist eine PV unwahrscheinlich.
WHO-Kriterien der PV
- A1: Erythrozyten zahl > 5,5 Mill/ul (>5,0Mill/ul) oder Hb > 18,5g/dl (16,5g/dl) oder Hämatokrit >52% (49%) bei Männern (Frauen)
- A2: Ausschluss einer sekundären Erythrozytose oder kongenitalen primären Erythrozytosen
- A3: JAK2-Mutation in kernhaltigen Blut-oder Knochenmarkzellen oder PRV1- Expression in reifen Neutrophilen oder klonale zytogenetische Aberration in Knochenmarkzellen außer Ph-Chromosom
- A4: Bildung erythropoetischer Kolonien im EPO-freien Milieu
- A5: Splenomegalie
- B1:Thrombozytenzahl > 45.000/ul
- B2: Leukozytenzahl >12.000/ul
- B3: Vermehrung der myelopoetischen Zellen im Knochenmark mit Prominenz der Erythroblasten und Megakaryozyten
- B4: verminderte oder niedrig-normale EPO-Konzentration im Blut.
- Diagnose: gilt als gesichert wenn A1+A2 (oder A3) + ein weiteres A (oder 2 weitere B) nachweisbar sind.
Differentialdiagnose
Die Abgrenzung der PV hat gegenüber anderen MPN mit gesteigerter Erythrozytenzahl und gegenüber reaktiven (sekundären) Erythrozytosen zu erfolgen. Übergänge zwischen den Entitäten der MPN sind möglich. Angeborene (sporadische oder familiäre) Formen von primärer Erythrozytose sind extrem selten.
Fälle von PV mit reiner Erythrozytose (charakteristisch für Mutationen im Exon 12 des JAK2-Gens) sind bezüglich ihres differenzialdiagnostischen Abgrenzungsbedarfes von sekundären Erythrozytosen wichtig.
Myeloproliferative Neoplasien
Essentielle Thrombozythämie (v.a. bei JAK2 V617F-positiven Formen können erhöhte Werte von Hämoglobin und Hämatokrit vorliegen)
Primäre Myelofibrose: im hyperproliferativen Frühstadium kann eine Proliferation aller drei Zellreihen einschließlich einer Erythrozytose vorliegen.
Reaktive Erythrozytosen
Erythrozytose durch Verminderung des Plasmavolumens
Pseudopolyglobulie mit Erhöhung der Erythrozytenzahl bei Stress oder schwerer Exsikkose
Erythrozytose bei starkem Nikotinkonsum ausgelöst durch einen erhöhten Anteil von Kohlenmonoxid-Hämoglobin
Erworbene sekundäre Erythrozytose infolge arterieller Hypoxie bei chronischen Herz- und Lungenerkrankungen, bei Schlaf-Apnoe-Syndrom oder bei Tumorerkrankungen mit paraneoplastischer EPO-Produktion und bei medikamentös induzierter Polyglobulie (z.B. Testosteron), Zustand nach Nierentransplantation, Doping
Seltene angeborene Ursachen von Erythrozytosen:
- Erythropoietinrezeptor-Mutationen, die zur erhöhten EPO-Sensitivität erythroider Vorläufer führen;
- VHL-Mutation mit gestörter EPO-Genregulation (Chuvash-Polyzythämie),
- EGLN1 (PHD2)-EPAS1 (HIF2A)-Mutationen
- Hämoglobinopathie mit erhöhter Sauerstoffaffinität oder 2,3-DPG-Mangel (z.B. 2,3-DPG-Mutase-Defizienz)
- Störungen der Hämoglobinbildung bei normaler O2-Affinität des Hämoglobins (heterozygote beta-Thalassämie, alpha-Thalassämia minor, leichte Eisenmangelanämien; Hämoglobinkonzentration, Hämatokrit und mittleres Erythrozytenvolumen sind hier vermindert)
Komplikation(en)
Übergang in eine akute Leukämie oder Übergang in eine postpolyzythämische Myelofibrose. Das Leukämierisiko liegt durchschnittlich bei 7,4 % der Erkrankten. Dabei steigt das Risiko von 2,4 % (bei Aderlass, Anagrelid, Interferon-alpha) auf 16,7 % bei Therapie mit mindestens 2 zytotoxischen Medikamenten.
Therapie
Die Therapiestratifizierung erfolgt in Abhängigkeit vom Thromboserisiko und ist in erster Linie auf die Prävention arterieller oder venöser Gefäßverschlüsse ausgerichtet. Eine gute Symptomkontrolle ist in der Regel mit einer Verbesserung der Lebensqualität verbunden. Alle derzeit zur Verfügung stehenden medikamentösen Therapiemöglichkeiten sind nicht kurativ. Haupttherapieziele sind:
- Reduktion des Risikos für Thromboembolien
- Kontrolle von klinischen Symptomen
- Aufschub bzw. Vermeidung der späten Komplikationen (Myelofibrose und MDS/akute Leukämie).
Die empfohlene Therapie für alle Patienten ist die Kombination von Aderlässen mit niedrig dosierter Acetylsalizylsäure (ASS). Bei Hochrisiko-Patienten und bei Niedrig-Risiko-Patienten mit deutlicher Krankheitsprogression im Verlauf wird eine zytoreduktive Therapie empfohlen (Barbui T et al. 2011).
Primärtherapie
- Aderlass
- ASS 100 mg/Tag
Im Verlauf, wenn Progression der Myeloproliferation oder zunehmendes Thrombose-/Blutungsrisiko oder Aderlasstherapie nicht durchführbar oder nicht kontrollierbare Symptome ggf. initial oder im Verlauf, unabhängig vom evtl. Progress (vorzugsweise innerhalb von Therapiestudien oder als individuelle Therapieentscheidung):
- Hydroxyurea+ IFN alpha2
Zweitlinientherapie:
- Ruxolitinib+IFN alpha 2b+ Hydroxyurea+ Busulfan
- und/oder Azetylsalizylsäure, IFN: Interferon.
Allgemeine Therapiemaßnahmen
- Gewichtsnormalisierung, regelmäßige Bewegung, Vermeiden von Exsikkose und langem Sitzen (ggf. Kompressionsstrümpfe, insbesondere bei Reisen), Reduktion von Gefäßrisikofaktoren und effektive Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen, kein Nikotinkonsum.
- Aderlässe: Aderlässe sind die schnellste und einfachste Maßnahme zur Absenkung des Hämatokrit und der Beseitigung der Hyperviskosität. Empfohlen werden isovolämische Aderlässe von 500 ml (bei Beginn evtl. von 300 ml) je nach individueller Verträglichkeit ein- bis zweimal pro Woche, bis der Hämatokrit (geschlechtsunabhängig) unter 45% eingestellt ist. Durch eine gute Einstellung des Hämatokritwertes < 45% und eine Kontrolle der Leukozytenzahl kann eine signifikante Absenkung der Thromboembolierate erreicht werden. Damit verbunden ist auch eine Reduktion der kardiovaskulären und durch andere größere thrombotische Ereignisse verursachten Mortalität. Die Aderlassfrequenz ist den Hämatokrit-Werten individuell anzupassen. Gelegentliche Aderlässe können ergänzend zur zytoreduktiven Therapie erforderlich sein, um den Hämatokrit im gewünschten Bereich zu halten, falls eine Änderung der zytoreduktiven Therapie nicht möglich oder geboten erscheint. Der immer eintretende Eisenmangel ist „erwünscht“ und wird nicht substituiert. In Ausnahmefällen, keinesfalls routinemäßig, kann bei symptomatischem Eisenmangel unter strenger Indikationsstellung und engmaschiger Laborkontrolle eine vorsichtige orale Eisensubstitution durchgeführt werden. Der zunehmende Eisenmangel ist nicht selten von einem sekundären Thrombozytenanstieg begleitet.
- Erythrozytapherese: Dieses Verfahren ist nur an dafür ausgestatteten Einrichtungen möglich. Es ist als Alternativverfahren zur Aderlasstherapie zu werten.
- Thrombozytenaggregationshemmer: Niedrig dosierte Azetylsalizylsäure (‚low dose‘ Aspirin, ASS/ 100 mg/Tag, ist bei Patienten ohne Kontraindikationen gegen das Medikament (Ulkusanamnese, vorausgegangene Blutungskomplikationen u.a.) zur Primärprophylaxe von Thrombosen indiziert. Cave: Kontraidikationen. Bei einer Thrombozytenzahl > 1 Million/µl sollte ASS wegen des erhöhten Blutungsrisikos erst nach einer medikamentösen Absenkung der Thrombozytenzahl (<600 000/µl) verabreicht werden, da der häufig beobachtete Verlust hochmolekularer von-Willebrand-Faktor-Multimere zu einer vermehrten Blutungsneigung führen kann. Unter einem Wert von 30% der vWF-Aktivität sollte ASS nicht verordnet werden.
- Alternativ: andere Thrombozytenaggregationshemmer (z.B. ADP-Antagonisten). Gesicherte Daten liegen hierzu nicht vor.
Zytoreduktive Therapie: Bei Risikofaktoren(Thromboembolien, und höheres Lebensalter ≥60 Jahre) liegt Indikation zur Einleitung einer zytoreduktiven Therapie vor (Hochrisiko-Patienten). Bei Niedrigrisiko-Patienten zytoreduktive Therapie bei Progression der Myeloproliferation, bei steigendem Risiko für Thromboembolien und Blutungen sowie bei anderweitig nicht kontrollierbare belastende klinische Symptome. Zeichen der Progression der Myeloproliferation sind:
- Zunahme der Milzgröße oder symptomatische Splenomegalie
- Thrombozytenanstieg auf >1 000 000/µl (ein sekundärer Thrombozytenanstieg durch Eisenmangel unter Aderlässen sollte bedacht werden)
- Leukozytenanstieg auf >15 000/µl oder höher
- Häufige bzw. zunehmende Aderlassfrequenz
- Gesteigertes/zunehmendes Risiko für Thromboembolien und Blutung und nicht kontrollierbare belastende klinische Symptome
- Im Verlauf neu aufgetretene Thromboembolien
- Hämorrhagische Komplikationen
- Mikrozirkulationsstörungen trotz ASS
- Eingeschränkte Durchführbarkeit von Aderlässen
- Symptomatischer Eisenmangel, der eine Fortführung der Aderlässe nicht erlaubt
- Unkontrollierter Hämatokritanstieg, falls Eisensubstitution unumgänglich ist
- Schwere bzw. belastende krankheitsbedingte Symptome
Primärtherapie:
Hydroxyurea (Hydroxycarbamid): Hydroxyurea (Anfangsdosis: 15-20 mg/kg KG/Tag). Eine individuelle Anpassung an die Blutwerte ist vorzunehmen. Cave (junge Patienten): Die unter der Hydroxyurea-Behandlung nicht sicher ausschließbare Erhöhung des Risikos einer sekundären Leukämie legt den zurückhaltenden Einsatz dieser Substanz bei jungen Patienten nahe. Die ggf. notwendige Fortführung der Aderlasstherapie ist von den individuellen Blutwerten abhängig zu machen.
Resistenz oder Intoleranz gegenüber Hydroxyurea (HU) bei PV sind gegeben bei:
- Aderlassbedürftigkeit nach 3-monatiger Therapie mit mindestens 2g HU/Tag, um den Hämatokrit unter 45% zu halten oder
- Unkontrollierte Myeloproliferation (d.h. Thrombozyten >400 000/µl oder Leukozyten >10 000/µl) nach 3 Monaten Therapie mit mindestens 2g HU/Tag oder
- Milzgrößenreduktion unter 50% bei massiver1 Splenomegalie (Beurteilung durch Palpation) oder unvollständiges Verschwinden von durch die Splenomegalie bedingten Symptomen nach 3-monatiger Therapie mit mindestens 2g HU/Tag oder
- Absolute Neutrophilenzahl <1 000/µl oder Thrombozytenzahl <100 000/µl oder Hämoglobin <10g/dl mit der niedrigsten Dosis von HU, die erforderlich ist, um ein komplettes2 oder partielles3 klinisch-hämatologisches Ansprechen zu erzielen oder
- Ulzera an den Beinen oder andere inakzeptable HU-bedingte nicht-hämatologische Toxizitäten, wie andere Manifestationen an Haut oder Schleimhäuten, gastrointestinale Symptome, Pneumonitis oder Fieber unabhängig von der Dosierung von HU (Barosi G et al. 2010).
Alternativ: Interferon alpha (Barbui T et al. 2018). Pegyliertes Interferon-alpha ist vom Nebenwirkungs- und Wirkungsspektrum deutlich besser verträglich als konventionelles Interferon-alpha (wird derezeit nicht mehr verwendet!). Die herkömmliche Form des pegylierten IFN wird einmal wöchentlich verabreicht (IFN alfa-2a, durchschnittliche Dosierung 90µg pro Woche). Eine neue für PV-Patienten (ohne symptomatische Splenomegalie) zugelassene pegylierte Form (Ropeginterferon alfa-2b) mit längerer Wirkdauer erlaubt eine Applikation in 14-tägigem Abstand. Bemerkung: Die Ergebnisse der randomisierten Zulassungsstudie bei unbehandelten oder mit Hydroxyurea vorbehandelten Hochrisiko-Patienten ergaben eine signifikante Überlegenheit von Ropeginterferon gegenüber Hydroxyurea oder bester verfügbarer Therapie. In einer klinischen Kontrollstudie ergab sich bei Niedrig-Risiko PV eine Überlegenheit von Ropeginterferon (100 µgalle 14 Tage) gegenüber der Standardtherapie (Aderlässe plus niedrig dosiertem ASS).Der Hämatokritwert ließ sich unter IFN stabiler unter 45% einstellen (Barbui T et al.2021). Weitere Studien belegen den positiven Effekt einer möglichst frühzeitigen Einsatz von IFN auch bei Niedrigrisiko-PV (Abu-Zeinah G 2021).
Zweitlinientherapie: Bei Resistenz oder Intoleranz gegenüber der Primärtherapie, aber auch bei schweren, durch die Primärtherapie nicht beherrschbaren klinischen Symptomen (z.B. hartnäckiger Pruritus u.a.) ist eine Therapieumstellung (Zweitlinientherapie) indiziert. Hierzu stehen Hydroxyurea oder IFN (in Abhängigkeit von der Erstlinientherapie) sowie der Tyrosinkinaseinhibitor (TKI) Ruxolitinib zur Verfügung.
Ruxolitinib: Für Ruxolitinib beträgt die initiale Dosis 2x10 mg/Tag. Ruxolitinib führt zur Kontrolle der gesteigerten Myeloproliferation, insbesondere von Hämatokrit und Splenomegalie bei insgesamt guter Verträglichkeit. Weitere positive Effekte sind die Rückbildung von Fatigue und Pruritus und anderen PV-assoziierten Symptomen mit deutlicher Verbesserung der Lebensqualität. Die Wirkung tritt in der Mehrzahl der Patienten innerhalb der ersten 4 Wochen ein. Auf das mögliche Auftreten von Hauttumoren und Infekten (insbesondere Herpes Zoster) muss geachtet werden (Kiladjian JJ et al.(2020).
Busulfan: Busulfan (Cave: leukämogenes Potenzial) ist als Ausweichtherapie bei Patienten in fortgeschrittenem Lebensalter anzusehen, wenn keine weiteren Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Radiophosphor und der der Einsatz von Chlorambucil gelten inzwischen als obsolet.
Anagrelid (1 bis 2 mg/ Tag) ist ausschließlich auf die Reduktion der Thrombozytenproduktion ausgerichtet und deshalb als Monotherapie der PV ungeeignet. Anagrelid kann bei stark erhöhter Thrombozytenzahl ggf. in der Kombination (off-label) mit anderen Medikamenten (z.B. Hydroxyurea oder IFN-alpha) eingesetzt werden, falls mit einer Monotherapie alleine keine zufriedenstellende Reduktion der Thrombozytenzahl erzielt werden kann. Anagrelid führt in Kombination mit ASS zu einem erhöhten Blutungsrisiko.
Milzbestrahlung und Splenektomie: Die Milzbestrahlung in niedrigen, fraktionierten Dosen und die Splenektomie (hohes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko) sind Einzelfällen mit Splenomegalie-bedingten Problemen vorbehalten und betreffen ganz überwiegend Patienten Übergang in Myelofibrose. Sie sind nur unter sehr strenger Indikationsstellung durchzuführen.
Allogene Knochenmark- bzw. periphere Blutstammzelltransplantation: Einzig kurative Therapieoptionen der PV. Aufgrund der günstigen Prognose der PV ist sie nur in Einzelfällen indiziert. Die Indikation ist insbesondere bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit komplikationsreichem Verlauf zu prüfen.
Prophylaxe von Rethrombosen: Bei bereits stattgehabten Thrombosen (Risikofaktor für Rethrombosen) ist eine Dauerprophylaxe mit Vitamin K-Antagonisten empfehlenswert. Alterantive: Direkte orale Antikoagulantien (DOAK; Faktor Xa- und Thrombin-Inhibitoren); sie sind als äquieffektiv zu werten.
Spätkomplikationen (Post-PV-Myelofibrose, MDS/akute Leukämie): Bei Post-PV-MF wird die Indikation zur allogenen Transplantation in der Regel entsprechend den Empfehlungen für die primäre Myelofibrose gestellt (siehe u. PMF).
Verlauf/Prognose
Die Lebenserwartung bei gänzlich unbehandelter PV ist aufgrund von Gefäßkomplikationen massiv eingeschränkt (mediane Überlebenszeit ca.1½ Jahre). Bei guter Kontrolle der Erkrankung lag die mediane Überlebenswahrscheinlichkeit in einer retrospektiven Analyse von 1545 PV-Patienten bei knapp 19 Jahren (Chiewitz E et al. (1962). Gesicherte Risikofaktoren für Thromboembolien und Hauptstratifizierungsparameter sind höheres Alter (≥60 Jahre, wobei in der klinischen Praxis auch das biologische Alter berücksichtigt wird) und eine bereits stattgehabte arterielle oder venöse Thrombose.
Niedriges Risiko
- Alter <60 Jahre, keine Thromboembolie (im Gesamtverlauf)
Hohes Risiko
- Alter ≥60 Jahre und/oder Thromboembolie (im Gesamtverlauf)
Die mittlere Lebenserwartung liegt nach versch. retrospektiven Studien an unter 50-jährigen Patienten bei > 23 Jahren (ohne Therapie bei 2 Jahren). Das 20-Jahres-Risiko eines Übergangs in eine akute Leukämie beträgt 15 %. Auf den Einsatz zytoreduktiver Medikamente mit leukämogenem Risikoprofil sollte insbesondere bei jungen Patienten verzichtet werden.
Das 20-Jahres-Risiko eines Übergangs in eine postpolyzythämische Myelofibrose, ist bei etwa 10 % der Patienten zu erwarten.
Nachsorge
Klinische Untersuchung und Blutbild: Abstände abhängig von der Therapieform und der Therapiephase sowie dem individuellen Verlauf der Erkrankung. In der Initialphase der Therapie und bei Therapieumstellungen kurzfristig, nach Erreichen einer stabilen Phase in der Regel einmal monatlich. Gelegentlich ergeben sich lange Aderlass-freie Phasen, in denen eine Verlängerung der Kontrollabstände möglich ist. Eine sonographische Kontrolle der Milz einmal pro Jahr ist empfehlenswert.
Hinweis(e)
Die Erkrankung an PV schließt eine Schwangerschaft nicht aus. Erhöhtes Thromboserisiko für die Patientin und den Fetus (erhöhte Spontanabortrate, Plazentarinfarkt/-insuffizienz)! Intensive interdisziplinäre Betreuung notwendig.
LiteraturFür Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio
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