Primäre Immundefekte

Zuletzt aktualisiert am: 23.08.2024

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Synonym(e)

CID; CVID; HIES; HIGM; Immundefekte primäre; Immundefekt, primärer; Primäre Immundefizienzien; Primäre Immunmangelsyndrome; SCID; VEO-IBD; XLP

Definition

Mit "Primäre Immundefekte" wird eine heterogene Gruppe, seltener, angeborener Erkrankungen des Immunsystems bezeichnet. In der IUIS-Klassifikation von 2015 wird diese Krankheitsfamilie in 9 Gruppen eingeteilt mit fast 300 verschiedenen, meist molekulargenetisch definierten Immundefekten (Picard C et al. 2015; s. Anhang, International Union of Immunological Societies classification 2015) - s. u. Immundefekte primäre (Klassifikation).

Die übergeordneten Sammelbegriffe SCID, CID, CVID, HIGM, HIES, VEO-IBD, XLP usw. sind klinisch hilfreich, um einen Immundefekt einzugrenzen. Die Begrifflichkeiten sollten jedoch durch eine subtile molekulare Diagnostik ergänzt werden. Nur diese erlaubt eine bessere Prognoseabschätzung, die wichtige genetische Beratung. Weiterhin ermöglicht eine molekulare Diagnostik auch eine Anwendung adäquater und spezifischer Therapiekonzepte.

Einteilung

Einteilung in Erkrankungsgruppen (IUIS-Klassifikation,  s.u. Immundefekte primäre, Klassifikation -Picard C et al. 2015)

  1. Primäre Immundefekte/kombinierte T/B/(NK)-Zell-Immundefekte incl. „SCID“
  2. Primäre Immundefekte /T- und B-Zell-Immundefekte mit syndromalen Eigenschaften
  3. Primäre Immundefekte/Antikörpermangel als führendes Symptom
  4.  Primäre Immundefekte/Immundysregulationen
  5.  Primäre Immundefekte/Defekte der Phagozytenzahl und/oder –funktion
  6.  Primäre Immundefekte/Defekte der intrinsischen und natürlichen Immunität 
  7.  Primäre Immundefekte/Autoinflammatorische Erkrankungen
  8.  Primäre Immundefekte/Komplementdefekte
  9.  Primäre Immundefekte/Knochenmarksversagen
  10. Primäre Immundefekte/Phänokopien (DD primärer Immundefekte)

Allgemeine Information

Folgende Warnzeichen gelten für primäre Immundefekte bei Kindern und Erwachsenen als beachtenswert (Picard C et al. 2015):

  • Pathologische Infektionsanfälligkeit „ELVIS“ (Erreger, Lokalisation, Verlauf, Intensität, Summe)
  • Immundysregulation „GARFIELD“ (Granulome, Autoimmunität, Rezidivierende Fieber, ungewöhnliche Ekzeme, Lymphoproliferation, chronische Darmentzündung)
  • Gedeihstörung Gewichtsverlust, meist mit Diarrhoe
  • Auffällige Familienanamnese (Konsanguinität, Immundefekt, pathologische Infektionsanfälligkeit, Immundysregulation, Lymphome)
  • Hypogammaglobulinämie, anhaltende oder rezidivierende Lymphopenie, Neutropenie, Thrombozytopenie
  • Ein genetischer Hinweis auf einen primären Immundefekt oder ein positives Neugeborenen-Screening auf primäre Immundefekte

Vorkommen

Angaben zu Prävalenzen der verschiedenen, meist molekulargenetisch definierten Immundefekte fehlen (Picard C et al. 2015). Aus Daten aus den USA wird die Prävalenz für einen klinisch relevanten Immundefekt zwischen 1:1200 und 1:2000 geschätzt (Boyle JM et al. 2007).

Klinisches Bild

Pathologische Infektionsanfälligkeit als Leitsymptom von primären Immundefekten: Eine pathologische Infektionsanfälligkeit ist meist das führende Symptom eines primären Immundefekts. Die Abgrenzung zur physiologischen Infektionsanfälligkeit ist schwierig, da keine aktuellen epidemiologischen Daten dazu vorliegen, welche Anzahl, welche Art undwelcher Verlauf von Infektionskrankheiten in welchem Lebensalter als normal zu bezeichnen sind (Monto AS et al. 1993). Die Beeinflussung der Infektionshäufigkeit durch Faktoren wie soziale Strukturen, Familiengröße oder Besuch einer Kindertagesstätte erschweren es zusätzlich, einen oberen Grenzwert für die physiologische Infektionshäufigkeit anzugeben. Zeichen einer pathologischen Infektionsanfälligkeit können Infektionen durch ungewöhnliche Erreger sein, die bei immunkompetenten Personen nur selten zu schweren Erkrankungen führen, wie z.B. eine Pneumonie durch Pneumocystis jirovecii oder CMV, eine Candida-Sepsis, eine Darm- und/oder Gallenwegsinfektion durch Cryptosporidien oder Mikrosporidien, oder eine disseminierte Infektion durch nichttuberkulöse Mykobakterien (NTM) (Bustamante J et al. 2008). Weiterhin können rezidivierende schwere Infektionen mit „gewöhnlichen“ Erregern wie z.B. Pneumokokken oder Herpes-simplex-Viren auf einen primären Immundefekt hinweisen (Bustamante J et al. 2008). Die isolierten Erreger können bereits einen ersten Hinweis auf den zugrunde liegenden Immundefekt liefern.

Lokalisation der Infektion: Auch die Lokalisation der Infektion kann ein Hinweis auf eine pathologische Infektionsanfälligkeit sein. So lassen monotope Infektionen eher an lokale anatomische Ursachen, polytope Infektionen hingegen eher an eine systemische Abwehrschwäche denken. Eine pathologische Infektionsanfälligkeit kann auch durch atypische Lokalisationen von Infektionen, z.B. einen Hirnabszess durch Aspergillus spp. oder einen Leberabszess durch S. aureus charakterisiert sein (Patiroglu T et al. 2010).

Untypischer Verlauf von Infektionen: Der protrahierte Verlauf von Infektionen oder ein unzureichendes Ansprechen auf antibiotische Therapie sind ebenfalls häufig Hinweis auf eine pathologische Infektionsanfälligkeit (Cunningham-Rundles C et al. 1999). So berichtet z.B. eine systematische Literaturanalyse zur persistierenden, chronischen Rhinosinusitis, dass bei bis zu 50% der Patienten, die auf eine adäquate Therapie nicht ansprachen, letztlich ein primärer Immundefekt vorlag. Zu ungewöhnlichen Verläufen nach Erregerexposition gehören auch Infektionskomplikationen durch abgeschwächte Erreger, die nach Lebendimpfungen, wie z.B. nach BCG-Impfung, MMR-, Varizella- oder Rotavirus-Impfung, auftreten können (Cunningham-Rundles C et al. 1999; Marciano BE et al. 2014).

Major/Minor-Infektionen: Schließlich kann der Schweregrad (die Intensität) von Infektionserkrankungen Ausdruck einer pathologischen Infektionsanfälligkeit sein. Mit dem Begriff „Major-Infektionen“ werden hierbei Pneumonie, Meningitis, Sepsis, Osteomyelitis und invasive Abszesse von sogenannten „Minor-Infektionen“, wie z.B. Otitis media, Sinusitis, Bronchitis und oberflächliche Hautabszesse, unterschieden. Auch wenn das Auftreten von Major-Infektionen bei primären Immundefekten überwiegt, so können auch persistierende oder über das Maß rezidivierende Minor-Infektionen Ausdruck eines primären Immundefekts sein (Aghamohammadi A et al. 2008; Owayed A et al. 2016). Die Anzahl der Infektionen (die Summe) wird gerade von den Betroffenen bzw. Patientenangehörigen oft als führendes Symptom empfunden. Infektionen sind hierbei von Fieberschüben ohne Fokus oder infektionsähnlichen Symptomen (z.B. obstruktive Bronchitiden) zu unterscheiden.

Störung der Immunregulation als Leitsymptom von primären Immundefekten: Das Immunsystem unterliegt einer komplexen Regulierung. Somit können genetische Störungen von Abwehrvorgängen oft auch die Homöostase des Immunsystems einschließlich der immunologischen Toleranz beeinträchtigen. Störungen der Immunregulation können sich z.B. durch Fieber, Autoimmunität, Lymphoproliferation, chronische „ekzematöse“ Hauterscheinungen, chronische Darmentzündung oder Granulombildung äußern. Diese klinischen Zeichen der gestörten Immunregulation können wesentliche, manchmal alleinige Symptome eines primären Immundefekts sein (Arason GJ et al. 2010). Bei einigen primären Immundefekten finden sich gehäuft atopische Erkrankungen oder Allergien (z.B. bei DOCK8-Defizienz, WAS, IPEX-Syndrom, DiGeorge Syndrom, Antikörpermangelerkrankungen, CVID) (Blazina S et al. 2016; Engelhardt KR et al. 2015; Lugo Reyes SO et al. 2016; MacGinnitie A et al. 2011; Chan SK et al. 2015; Mohammadinejad P et al. 2015; Harp J et al. 2015). Aufgrund der Häufigkeit von Allergien in der Allgemeinbevölkerung ist diese Symptomatik jedoch meist nur im Zusammenhang mit anderen klinischen Manifestationen hinweisend.

GARFIELD –Symptome als Hinweis für eine Störung der Immuregulation: Als spezifischer sind die folgenden Manifestationen anzusehen (Farmand S et al. 2017): sie können unter dem Akronym „GARFIELD“ als Akronym für eine Störung der Immunregulation. So können nicht-nekrotisierende, kleinherdige, epitheloidzellige Granulome („sarcoid-like lesions“) die erste Manifestation eines Immundefekts sein. Sie treten vor allem in der Lunge, in lymphatischen Geweben, im Darm aber auch in der Haut auf (Harp J et al. 2015; Park MA et al. 2008; Jesenak M et al. 2014). Eine Assoziation mit Erregern (z.B. nichttuberkulöse Mykobakterien) ist möglich, meist können aber keine ursächlichen Keime identifiziert werden. Granulomatöse Entzündungen sind typisch für die chronische Granulomatose (v.a. Darm, Urogenitaltrakt, Leber), sie werden aber auch bei ca. 8% bis 20% der CVID-Patienten, bei CID und SCID-Varianten (v.a. RAG-Defekt) oder radiosensitiven Immundefekten (z.B. AT, NBS) nachgewiesen.

Autoimmunität und primäre Immundefekte: Autoimmunität ist eine häufige Manifestation bei primären Immundefekten (Carneiro-Sampaio M et al. 2015). Am häufigsten sind Autoimmunzytopenien (v.a. bei humoralen Immundefekten, CID, ALPS und anderen lymphoproliferativen Immundefekten, WAS, IPEX) und Autoimmunthyreoiditis. Ca. 12% bis 20% der Patienten mit CVID entwickeln eine Autoimmunzytopenie, die oftmals auch der Präsentation mit einer diagnoseweisenden Infektionsanfälligkeit vorausgeht. Weitere Autoimmunmanifestationen bei Immundefekten können durch Autoantikörper, aber auch durch T-Zellen vermittelt sein und umfassen u.a. rheumatoide Arthritis, JIA, Vaskulitis, Glomerulonephritis, Hepatitis, Zöliakie/Autoimmunenteropathie, Alopezie, Vitiligo, Diabetes mellitus Typ 1, M. Addison oder Hypoparathyreoidismus. Komplementdefekte, partielle/selektive Antikörpermangelerkrankungen, CVID und CGD (insbesondere Trägerinnen) können mit SLE assoziiert sein (Dimitriades VR et al. 2016). 

Ungeklärtes rezidivierendes Fieber: Rezidivierendes Fieber ohne infektiologischen Fokus ist die Hauptmanifestation bei periodischen Fiebersyndromen, bei denen das zusätzliche Auftreten von Hautveränderungen, zervikaler Lymphadenopathie, Aphthen, Arthritiden, Myalgien oder abdominellen Beschwerden in der differenzialdiagnostischen Einordnung hilft. Rezidivierendes unklares Fieber kann auch die erste Manifestation eines zyklischen Neutropenies sein. Chronische dermatitische Hauterkrankungen sind häufig ein Zeichen primärer Immundefekte. Hierzu gehören vor allem früh beginnende, oft schwer zu therapierende Dermatitiden bis hin zur Erythrodermie mit/ohne Alopezie (z.B. bei OS, IPEX-Syndrom, WAS, HIES, SCID) (Sillevis Smitt JH et al. 2013; Berron-Ruiz A et al. 2000). Lymphoproliferation beschreibt die pathologische Vergrößerung von Milz, Leber und Lymphknoten bzw. die Etablierung tertiären lymphatischen Gewebes insbesondere in der Lunge und im Gastrointestinaltrakt. Lymphoproliferation ist das wesentliche Leitsymptom bei ALPS, XLP, APDS, bei aktivierenden STAT3 Mutationen oder der CTLA4-Defizienz (Kuehn HS et al. (2014). Bei der FHL (Familial and acquired hemophagocytic lymphohistiocytosis) ist die Hepatosplenomegalie ein diagnostisches Kriterium (Janka GE 2007). Bei Antikörpermangelerkrankungen (z.B. CVID, manche HIGM) ist vor allem die Splenomegalie häufig. Des Weiteren findet sich oftmals eine nodulär-lymphoide Hyperplasie im Darm. Auch bei CID kann Lymphoproliferation eine wesentliche Manifestation sein (Blazina S et al. 2016).

Chronische Darmentzündung: Die chronische Darmentzündung wird zunehmend als Primärmanifestation angeborener Immundefekte erkannt. Besonders ein früher Beginn und/oder ein therapieresistenter Verlauf einer chronischen Diarrhoe kann ein wichtiger Hinweis auf einen Immundefekt sein. Die früh beginnende Colitis ist typisch für das IPEX-Syndrom, kann aber auch u.a. bei CGD, NEMO-Defekt, XIAP-Defizienz, Defekten im IL-10/IL-10-Signalweg oder CID das entscheidende Leitsymptom sein. Die chronische Darmentzündung ist auch bei Antikörpermangelsyndromen häufig (Cunningham-Rundles C et al. 1999). Für die typischen Manifestationen einer gestörten Immunregulation bei primären Immundefekten wurde in der Erstversion der Leitlinie das Akronym „GARFIELD“ (Granulome, Autoimmunität, rezidivierendes Fieber, ungewöhnliche Ekzeme, Lymphoproliferation, chronische Darmentzündung) eingeführt. Die Wahl dieser Kriterien wird durch epidemiologische Studien und Fallbeschreibungen aus den letzten Jahren unterstützt.

Weitere Leitsymptome für primäre Immundefekte: Maligne Erkrankungen, insbesondere Lymphome, können ebenfalls die erste klinische Manifestation von Immundefekten sein. Lymphome bei Immundefekten sind oft B-Zell-Lymphome, treten häufig bereits bei jüngeren Kindern auf, zeigen häufiger einen extranodalen Befall, sprechen oft weniger gut auf die Therapie an und zeigen häufiger Rezidive.

Häufig sind die malignen Erkrankungen virusassoziiert (EBV, HPV). Besonders häufig treten maligne Erkrankungen bei primären Immundefekten mit Chromosomenbrüchigkeit (z.B. AT, NBS, Bloom-Syndrom, Ligase-IV-Defekt, Artemis-Defizienz), XLP-1/SAP-Defizienz, ALPS und Knorpel-Haar-Hypoplasie auf (Salavoura K et al. 2008; Shapiro RS 2011).  30-50% der Patienten mit GATA2-Defizienz erkranken an einem Myelodysplastischen Syndrom (MLS) oder einer AML (van der Werff Ten Bosch J et al. 2016). Auch bei CID treten häufig Lymphome auf. Ferner können ektope EBV-assoziierte Weichteiltumore oder das HHV-8-assoziierte Kaposi-Sarkom Ausdruck eines primären Immundefekts sein (Schober T et al. 2017; Byun M et al. 2013). Die Kenntnis eines zugrundeliegenden Immundefekts kann therapieentscheidend sein (z.B. Chemotherapie mit reduzierter Toxizität bei Chromosomenbrüchigkeit, ggf. frühzeitige Entscheidung zur allogenen Stammzelltransplantation).

Syndromale Phänomene wie:

  • Dysmorphien (z.B. DiGeorge Syndrom, STAT3-defizientes HIES),
  • Albinismus (z.B. Chediak-Higashi-Syndrom, Griscelli-Syndrom, Hermansky-Pudlak-Syndrom
  • Typ 2),
  • Mikrozephalie (z.B. NBS, Cernunnos/XLF-Mangel, DNA Ligase-IV-Mangel),
  • Kleinwuchs (z.B. Knorpel-Haar-Hypoplasie, Schimke-Syndrom)
  • ektodermale Dysplasie (z.B. Anhidrotische Ektodermale Dysplasie mit Immundefekt)

können auf einen Immundefekt hinweisen (International Union of Immunological Societies Expert Committee on Primary I et al. 2009).

Neurologischen Auffälligkeiten: Hierzu zählen u.a. die progressive Neurodegeneration des Kleinhirns bei AT und das Auftreten einer chronischen, aseptischen Meningitis bei NOMID.  Entwicklungsstörungen bis hin zur mentalen Retardierung finden sich z.B. bei NBS, Cernunnos/XLF-Mangel, DANN Ligase-IV-Mangel, LAD II, ß-Aktin-Mangel, ADA-SCID, PNP-SCID. Bei Chediak-Higashi-Syndrom und FHL finden sich häufig entzündlich-neurologische Manifestationen. Diese können auch z.B. bei ADA2-, DOCK8-, oder CTLA4-Defizienz sowie bei aktivierenden STAT3 Mutationen auftreten. Teleangiektasien der Konjunktiven und Augenmotilitätsstörungen sind z.B. typisch für AT und treten meist ab einem Alter von 3 Jahren auf.

Verspäteter Abfall der Nabelschnur: Ein verspäteter Abfall der Nabelschnur (>21 Tage nach Geburt) kann ein Hinweis auf einen Granulozytenfunktionsdefekt (z.B. LAD, RAC2-Defizienz) oder einen Defekt der Toll-like-Rezeptor vermittelten Signaltransduktion (z.B. MyD88/IRAK-4-Defizienz) sein. Ein verzögerter Nabelschnurabfall kann jedoch meist durch andere Faktoren erklärt werden (z.B. Frühgeburtlichkeit, Entbindung per Sectio, postpartale antibiotische Therapie). Charakteristischeres Symptom für einen Granulozytendefekt ist eher die Omphalitis in Verbindung mit dem verzögerten Abfall der Nabelschnur.

Manifestation von primären Immundefekten im Erwachsenenalter: Als angeborene Erkrankungen manifestieren sich die meisten primären Immundefekte bereits im Kindes- oder Jugendalter. Bis zu 50% der Erstdiagnosen betreffen aber Patienten über 25 Jahre, womit die Prävalenz von primären Immundefekten insgesamt im Erwachsenenalter überwiegt (Kobrynski L et al. 2014). Insbesondere die häufige CVID-Erkrankungsgruppe manifestiert sich im Median erst mit ca. 24 Lebensjahren. Fast jeder primäre Immundefekt kann sich spät und dann oft mit einem atypischen klinischen Bild manifestieren, insbesondere wenn die Mutationen in den betroffenen Genen keine Nullmutationen sind, sondern eine Restfunktion des betroffenen Genprodukts erlauben. Häufiger berichtete Beispiele sind XLA, CGD, XLP oder SCID-Varianten wie z.B. ADA-Defizienz.

Diagnostik

Basisdiagnostik bei Verdacht auf einen primären Immundefekt

  • Blutbild mit Differenzierung
  • Bestimmung der Immunglobuline (IgM, IgG, IgA, IgE).
  • Im Differenzialblutbild können Leukozytopenie, Lymphozytopenie, Neutropenie, Monozytopenie oder Thrombozytopenie der erste Hinweis auf einen Immundefekt sein und bedürfen weiterer Abklärung. Wichtig ist die Beurteilung der Absolutzahlen unter Berücksichtigung altersabhängiger Normwerte. Die erniedrigten Werte können auf eine verminderte Produktion (z.B. SCID, SCN, WAS, chronisches Knochenmarksversagen bei CID) oder ein reduziertes Überleben (z.B. ITP, AIHA, AIN oder HLH) hinweisen.
  • Eosinophilie im Zusammenhang mit Infektionsanfälligkeit oder Immundysregulation kann ein Hinweis auf einen primären Immundefekt sein (z.B. HIES, OS, IPEX-Syndrom). Weiterhin sollte eine morphologische Beurteilung des Blutausstrichs erfolgen (z.B. Howell-Jolly-Körperchen bei Asplenie, Mikrothrombozytopenie bei WAS, Riesengranula bei Chediak-Higashi-Syndrom).
  • Antikörpermangelerkrankung (bei etwa 50% der Patienten mit primärem Immundefekt): diese kann auftreten bei z.B. chronischem enteralen oder renalen Verlust, bei Medikamenteneinnahme (z.B. manche Antiepileptika, Antimalaria-Medikamente, Immunsuppressiva oder Chemotherapien) oder bei malignen Erkrankungen, insbesondere Lymphome und Leukämien. Bei der Bestimmung der Immunglobulinkonzentrationen im Kindesalter sind altersspezifische Normwerte zu beachten. Bis zum 6.-10. Lebensmonat sind diaplazentar übertragene mütterliche IgG-Antikörper nachweisbar, so dass eine zuverlässige Beurteilung der kindlichen IgG-Produktion erst danach möglich ist. Ehemalige Frühgeborene zeigen oft erniedrigte IgG-Level, die darüber hinaus schneller ihren Nadir erreichen. Die IgA-Produktion reift oft erst im Verlauf der ersten Lebensjahre heran, so dass ein IgA-Mangel erst nach dem 4. Lebensjahr sicher diagnostiziert werden kann. Auch erhöhte Immunglobulinkonzentrationen können auf einen Immundefekt hinweisen, insbesondere ein erhöhtes IgE (z.B. bei HIES, OS, IPEX-Syndrom), ein erhöhtes IgM (z.B. bei HIGM, manche Patienten mit NEMO-Defekt) aber auch ein erhöhtes IgG (z.B. bei ALPS).
  • Stellenwert genetischer Diagnostik bei primären Immundefekten: Die meisten bisher genetisch definierten primären Immundefekte sind monogenetisch. Viele zeigen jedoch eine variable Expressivität und Penetranz (Boztug H et al. 2016). Patienten mit der gleichen Mutation können demnach unterschiedliche Phänotypen zeigen. Dies gilt v.a. für „hypomorphe“ Varianten, bei denen das betroffene Genprodukt nicht fehlt, sondern eine Restfunktion behält. So besteht bei den meisten Defekten keine konstante Genotyp-Phänotyp Korrelation.
  • Schließlich kann ein ähnlicher klinischer Phänotyp auf Mutationen in unterschiedlichen Genen beruhen (Tsujita Y et al. 2016). Weiterhin werden offenbar viele bisher nicht weiter definierte Immundefekte durch multiple Gene beeinflusst.
  • Neben der klassischen gezielten Sanger-Sequenzierung einzelner Gene werden inzwischen häufig parallele Multi-Genanalysen mittels next generation sequencing (NGS) eingesetzt. Hierzu gehört die Genpanel-Diagnostik mit der Analyse einer Gruppe von bekannten krankheitsassoziierten Genen, die Sequenzierung nahezu aller Protein-kodierenden Gene (whole exome sequencing, WES) oder des gesamten Genoms (whole genome sequencing, WGS). Grundsätzlich können durch WES oder WGS auch neue Gendefekte identifiziert werden. Die experimentelle Validierung von Kandidatengenen ist jedoch oft sehr aufwändig, so dass dies in der akuten Diagnostik nur selten weiterhilft.
  • Primäre Immundefekte, die durch die Basisdiagnostik nicht erfasst werden: Eine Reihe von primären Immundefekten wird nicht durch die Basisdiagnostik erfasst. Hierzu gehören spezifische Antikörpermangelerkrankungen, viele Defekte der angeborenen Immunität (z.B. Komplementdefekte, IRAK-4- oder NEMO-Defizienz, Neutrophilenfunktionsdefekte, Defekte der IL-12/IFN-Achse) sowie eine Reihe von Immundefekten, bei denen die Immundysregulation im Vordergrund steht (z.B. bei  familiärer hämophagozytischer Lymphohistiozytose (FHL) im symptomfreien Intervall, autoinflammatorische Erkrankungen).

Labor

Auffällige Laborbefunde als erstes Zeichen für einen primären Immundefekt. Hierzu gehören: Neutropenie, Lymphozytopenie und Thrombozytopenie. Sie können Anzeichen einer unkomplizierten viralen Infektion sein, aber auch erster Hinweis auf einen primären Immundefekt.

Antikörperkonzentrationen unter dem altersadaptierten Normbereich sind ein wichtiger Hinweis auf einen Immundefekt. Vor allem Säuglinge mit SCID, Agammaglobulinämie oder SCN können bei der ersten Infektion lebensbedrohlich erkranken. Bei reproduzierbar auffälligen Laborbefunden sind daher weitere immunologische Abklärung sowie geeignete protektive Maßnahmen (z.B. antibiotische und antimykotische Prophylaxe, Isolation des Patienten, Verzicht auf Lebendimpfungen) erforderlich.

Literatur
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