VarizellenB01.9

Autoren:Prof. Dr. med. Peter Altmeyer, Prof. Dr. med. Martina Bacharach-Buhles, Dr. med. Franziska Löffel

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Zuletzt aktualisiert am: 20.08.2024

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Synonym(e)

Chicken pox (e); petite vérole volante; Schafblattern; Wasserpocken; Windpocken

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Definition

Erstinfektion nicht-immuner Personen mit dem Varizella-Zoster-Virus. Die Infektion hinterläßt lebenslange Immunität. Die endogene Reinfektion führt zum Krankheitsbild des Zosters.

Erreger

Vorkommen/Epidemiologie

Die Anzahl der Windpockenerkrankungen      (seit 2013  Meldepflicht !)   

wird für Deutschland auf 500.000/Jahr geschätzt (vor Einführung der Impfung). Insgesamt erkranken ca. 75% der Kinder unter 15 Jahren, darunter ca. 310.000 (41,5%) im Alter von 0 bis 5 Jahren, ca. 320.000 (42,4%) im Alter von 6 bis 12 Jahren sowie ca. 65.000 (8,8%) im Alter von 12 bis 15 Jahren. Die Inzidenz schwerer Verläufe bei hospitalisierten Kindern < 16 Jahre liegt bei 0,8/100.000 Kinder.

In der Altersgruppe der 10- bis 11-Jährigen liegt die Durchseuchungsrate bei 94%. Bei Jugendlichen und Erwachsenen bis zu 40 Jahren bestehen noch Immunitätslücken von ca. 3 bis 4%.

Die Mortalität der Varizellen liegt nach internationalen Untersuchungen bei Immunkompetenten zwischen 0,03 und 0,05 je 100.000 Personenjahre. Die tatsächliche Zahl der Varizellen-bedingten Todesfälle in Deutschland liegt bei 20-40 Todesfälle/Jahr (ca. 0,03/100.000 Einwohner/Jahr). Bei Erwachsenen wird die Zahl der Todesfälle mit 17-30/100.000 angegeben. Bei Kindern mit Leukämie kommt es in etwa 10% zu tödlichem Verlauf. Bei Kindern mit Asthma bronchiale und einer Therapie mit Kortikosteroiden sind ebenfalls komplikative Verläufe zu erwarten.  

Diaplazentare Übertragung: Eine Übertragung des Virus über die Plazenta ist selten, kann aber in 1-2% der Fälle bei Schwangeren zu einer kongenitalen Infektion führen, sofern die Erkrankung zwischen der 5. und 24. Schwangerschaftswoche aufgetreten ist.

Ätiopathogenese

Übertragung des Virus von einem Varizellen- oder Zoster-Patienten durch Tröpfchen- oder Schmierinfektion, insbes. durch Kontakt mit Speichel oder Flüssigkeitsinhalt der Bläschen sowie Niesen oder Husten. Nach Infektion und Replikation im Epithel des Respirationstraktes (seltener der Konjuktiven) kommt es zur ersten virämischen Phase und weiterer Replikation in dem lymphatischen System. 

Manifestation

Vor allem im Kindesalter auftretend (2/3 aller Fälle im 5. bis 9. Lebensjahr); selten bei Erwachsenen (Varicellae adultorum); sehr selten 2. Auftreten von Varizellen als Reinfektion bei Erwachsenen. 

Lokalisation

Befall in kranio-kaudaler Richtung. Zuerst Kopfhaut (häufig Befall der behaarten Kopfhaut!) und Mundschleimhaut (Befall nahezu obligat; Merke: bei V. a.Varizellen immer die Mundschleimhaut inspizieren!); anschließend  Stamm und Extremitäten. Handflächen und Fußsohlen bleiben meistens ausgespart.

 

 

Klinisches Bild

95% der Infektionen verlaufen klinisch manifest. Die Inkubationszeit beträgt meist ca. 14 Tage (9-23 Tage). Nach kurzem Prodromalstadium zeigen sich leichtes Fieber, deutlicher Juckreiz und Exanthem.

Integument: Schubweises Aufschießen kleiner roter Flecken mit raschem Übergang in Papeln und Bläschen. Eintrübung des zunächst wasserklaren Bläscheninhalts, Ausbildung von fest haftenden Krusten, die nach 2-3 Wochen ohne Hinterlassung von Narben abfallen. Polymorphes Exanthembild durch die gleichzeitig vorhandenen verschiedenen Entwicklungsphasen der Effloreszenzen (Heubnersche Sternkarte). Die Zahl der Bläschen ist unterschiedlich von wenigen bis zu einigen hunderten. Durch  Kratzeffekte und Sekundärinfektion können varioliforme Narben zurückbleiben. Hämorrhagische oder bullöse Umwandlung möglich.

Schleimhäute: Gelblich bedeckte, von einem roten Saum umgebene Erosionen. An der Mundschleimhaut ist bevorzugt der harte Gaumen und die Wangenschleimhäute betroffen. Seltener sind Konjunktiven, Kehlkopf oder Genitalschleimhäute betroffen.

Bei Kindern meist komplikationsloser Verlauf ohne Begleitsymptome, selten Lymphknotenschwellung.

Bei Erwachsenen meist schwerer Verlauf mit ausgeprägten Allgemeinsymptomen, Krankheitsgefühl, Fieber, Kopf- und Gelenkschmerzen und Lymphknotenschwellung.

Diagnostik

Nukleinsäurenachweis Varizella-Zoster-Virus aus Blässcheninhalt (PCR)

ggf. Serologie: VZV-IgG-Nachweis im Serum, insbesondere auch als Überprüfung des Impfstatus/Impferfolgs

Auch Unterscheidung einer Primärinfektion (Varizellen) vom endogenen Rezidiv (Herpes zoster) möglich.

Histologie

Zunächst mehrkammeriges, später einkammeriges Bläschen; ballonierende Degeneration der Basalzellen; epidermale Riesenzellen. Bläschenausstrich: Multinukleäre epitheliale Riesenzellen, Einschlusskörperchen.

Differentialdiagnose

Zoster generalisatus: Ältere Personen, segmentales Befallsmuster ist stets noch nachweisbar

Eczema herpeticatum: vorbekannte atopische Dermatitis, auch bei Kinder hochfieberhafer Verlauf 

Prurigo simplex acuta infantum: urtikarielle Papeln, manchmal auch mit Bläschen, schubweise verlaufend, heftig juckend, kein Krankheitsgefühl.  

Prurigo simplex subacuta: langzeitige Chronizität, zerkratzte chronische Papeln.  

Andere Virusexantheme (Coxsackie- und ECHO-Viren; EBV). Serologie!  

Komplikation(en)

Impetiginisation, Hautgangrän, Bronchitits, Varizellenpneumonie (20-30/10.000 Erwachsene), aseptische Meningoenzephalitis, akute zerebelläre Ataxie (2-3/10.000 Kinder). Otitis media, Nephritis, Arthritis, Myokarditis, Purpura fulminans, Reye-Syndrom, bakterielle Sepsis ausgehend von der Haut (2-3/10.000 Kinder), Organbefall v.a. bei immunsupprimierten Patienten.

Infektion während der Schwangerschaft: Inzidenz: 1-3/1000 Schwangerschaften. Diaplazentare Infektion etwa 25%. Bei 1-12% aller Infizierten kommt es zu einem " Kongenitalen Varizella-Syndrom".

Externe Therapie

Kinder: Vornehmlich externe Behandlung.

Allgemein: Fingernägel kürzen, ggf. Handschuhe über Nacht.

Bläschenstadium: Lediglich lokal austrocknende Maßnahmen, z.B. Trockenpinselung mit Lotio alba oder synthetischen Gerbstoffen (z.B. Tannolact Lotio, Tannosynt), Zinksulfat-Hydrogel, Vollbäder mit Kaliumpermanganat-Zusatz (hellrosa) oder Chinolinol (z.B. Chinosol 1:1000 oder R042 ) als Badezusatz oder Abreibungen mit verdünntem Essigwasser. Bei Juckreiz 2-5% Polidocanol in Lotio alba bzw. als Gel R197 oder Milch (Polidocanol-Milch) .

Bei Superinfektion: Clioquinol-Creme (Linola-Sept) oder Lotio alba mit 0,5-2% Clioquinolzusatz R050 .

Krustenstadium: Anfänglich antiseptische Salben z.B. Clioquinol Creme R049 , später aufweichende heilungsfördernde Salben z.B. Dexpanthenol-Salbe oder -Creme (z.B. Bepanthen).

Merke! Antibiotika-haltige Externa bei großflächiger Ausbreitung eher zurückhaltend anwenden (Keimselektion! Sensibilisierungsgefahr! Systemische Nebenwirkungen!).

Bei Schleimhautbeteiligung: Mundspülungen (z.B. Dexpanthenol Lsg. R066 ), Kamillosan Lsg., oder Tormentill-Adstringens R255 , ggf. anästhesierende und/oder antibiotische zugesetzte Lösungen oder Mundgele oder Mundpasten (z.B. Dolo-Dobendan Lösung, Acoin Lösung, Parodontal Mundsalbe, Hexoral Lsg., Kamistad Gel).

Bei Fieber: Bettruhe, konservativ fiebersenkende Maßnahmen (Wadenwickel, Eisbeutel in die Leisten), ggf. fiebersenkende Medikamente (z.B. Paracetamol 250 mg Supp.). Auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr achten.
Keine Acetylsalicylsäure, Cave! Reye-Syndrom.

Bei Juckreiz 2-5% Polidocanol in Lotio alba bzw. als Gel R197 oder Milch (Polidocanol-Milch).

Erwachsene:

  • Bläschenstadium: Austrocknende desinfizierende Polidocanol-Zinkoxidschüttelmixtur 3-10% R200 . Bei Superinfektion antiseptische Zusätze wie Clioquinol 2-5% oder Zinksulfat R298 . Alternativ Idoxuridin Lösung (z.B. Zostrum) 4mal/Tag auf befallene Haut pinseln. Cave! Idoxuridin Lsg. nicht länger als 4 Tage anwenden.
  • Krustenstadium: Anfänglich antiseptische Salben z.B. 2-5% Clioquinol Creme R049 , später aufweichende, heilungsfördernde Salben (z.B. Dexpanthenol Salbe).

Interne Therapie

  • Kinder: Antihistaminika p.o. wie Dimetinden (z.B. Fenistil Trp., 3mal/Tag 10-15 Trp. p.o.), Doxylamin (z.B. Mereprine) 1-3mal/Tag 1-2 Teel. p.o. oder Cetirizin (z.B. Zyrtec Trp./Saft, 2-3mal 1/2-1 Messl./Tag).
  • Immunsupprimierte Kinder: Aciclovir 500 mg/m2 KO 3mal/Tag alle 8 Std. über 5 Tage i.v.
  • Erwachsene: Aciclovir 5 mg/kg KG als Kurzinfusion 3mal/Tag alle 8 Std. über 5-7 Tage. Cave! Blutbildkontrolle, sowie Kontrolle von Leber- und Nierenwerten, sind erforderlich.
  • Alternativ: Aciclovir  800mg p.o. 5mal/Tag für 5-10 Tage 
  • Alternativ: Valaciclovir 3mal/Tag 1000 mg p.o. über 7 Tage.
  • Alternativ: Brivudin 1mal/Tag 125 mg/Tag p.o. über 7 Tage.
  • Immunsupprimierte Erwachsene: Aciclovir 3mal/Tag 15 mg/kg KG als Kurzinfusion für 5-10 Tage. Bei nachgewiesener HIV-Infektion Dosierung in Abhängigkeit von der Anzahl der CD4-positiven Zellen.
  • Schwangerschaft: Bei seronegativen Schwangeren kann es zu schweren Verläufen (insbes. im 3. Trimenon) mit einer 10% Wahrscheinlichkeit zur Ausblidung einer Varizellen-Pneumonie kommen. Therapie mit Aciclovir 3mal/Tag 10-15 mg/kg KG i.v. (für Aciclovir und Valciclovir sind gehäufte Missbildungen bisher nicht nachgewiesen; aus forensischen Gründen empfiehlt sich die Unterzeichnung einer einer Einverständniserklärung "informed consent").

Prophylaxe

  • Seit August 2004 ist die Varizellen-Schutzimpfung (aktive Immunisierung) von der STIKO (Ständige Impfkommission) für alle Kinder und Jugendlichen empfohlen. Die Impfung sollte vorzugsweise im Alter von 11-14 Monaten durchgeführt werden, kann jedoch auch jederzeit danach erfolgen. Noch ungeimpfte 9- bis 17-Jährige ohne Windpockenanamnese sollten geimpft werden, da die Erkrankung bei ihnen mit einer höheren Komplikationsrate einhergeht. Außerdem ist eine Impfung bei seronegativen Frauen mit Kinderwunsch, bei seronegativen Patienten mit einer immunsuppressiven Therapie, bei Patienten mit Leukämie, bei Patienten mit schwerem atopischen Ekzem sowie bei seronegativem Personal im Gesundheitswesen indiziert.
  • Bei ungeimpften Personen mit negativer Windpockenanamnese und Kontakt zu Erkrankten ist eine postexpositionelle Impfung innerhalb von 5 Tagen nach Kontakt oder innerhalb von 3 Tagen nach Beginn des Exanthems zu erwägen.
  • Eine Prophylaxe nach Kontakt mit einem Varizellen-Erkrankten mittels einer passiven Immunisierung (Varizella-Zoster-Immunglobulin) wird innerhalb von 96 Stunden nach Kontakt für Personen mit erhöhtem Risiko für Komplikationen empfohlen. Sie kann den Ausbruch einer Erkrankung verhindern oder deutlich abschwächen. Zu diesem Personenkreis zählen ungeimpfte Schwangere mit fehlender Windpocken-Anamnese, immungeschwächte Patienten mit unbekannter Immunität und Neugeborene, deren Mutter 5 Tage vor bis 2 Tage nach der Entbindung an Varizellen erkrankte.
  • Aktive Immunisierung (Lebendvakzine): Varilrix® 0,5 ml s.c. z.B. bei HIV-positiven Pat. ohne Varizella-AK und bei negativer Varizellen-Anamnese. AK-Kontrolle und bei mehr als 200 CD4 Zellen/µl, bzw. nach Absprache mit HIV-Spezialisten, nach 3 Monaten ggf. Wiederholung bei nicht ausreichendem Impfschutz. Alternativpräparat: Varivax. Cave! Kontraindikation: Schwangerschaft, massive Immunsuppression, stattgehabte VZV-Infektion.
  • Passive Immunisierung mit Varicella-Zoster-Hyperimmunglobulin (z.B. Varitect®, Varicellon®), bis spätestens 96 Std. nach Exposition. Varitect®: Einmalig 1 ml/kg i.v. oder Varicellon®: Mindestens 0,2 ml/kg KG i.m.

Tabellen

Systemische antivirale Therapie bei Immunsupprimierten

Immunstatus

Wirkstoff

Dosierung

CD4-Zellen > 200/µl

Aciclovir

5mal/Tag 12 mg/kg KG p.o. = 5mal/Tag 1 Tbl. 800mg

Famciclovir 

3mal/Tag 250 mg p.o. = 3mal/Tag 1 Tbl. p.o.

Valaciclovir

3mal/Tag 1000 mg p.o. = 3mal/Tag 2 Tbl. à 500 mg p.o.

Brivudin (Zostex) Cave: (nicht zugelassen bei immunsupprimierten Patienten)

1mal/Tag 125 mg p.o. über 7 Tage; Cave: nicht in Kombination mit 5-Fluorouracil anwenden!

 

CD4-Zellen < 200/µl

Aciclovir 

3mal/Tag 10 mg/kg KG i.v. alle 8 Stunden über 10 Tage

Foscarnet (Foscavir) Bei Aciclovir-Resistenz (nur bei intakter Nierenfunktion anwenden)

3mal/Tag 40 mg/kg KG i.v. = 3mal/Tag 2400 mg i.v., jeweils auf 100 ml Glukose 5%, auf 500 ml verdünnt über 1 Stunde infundieren, Dauer unbegrenzt.

 

Hinweis(e)

Seit dem 29. März 2013 besteht gemäß Infektionsschutzgesetz für Ärzte und Labore eine bundesweite, namentliche Meldepflicht für Windpocken bei Verdacht und/oder Nachweis der Erkrankung.
 

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