Bilder (15)
ArtefakteL98.1
Synonym(e)
Definition
Als Artefakte, im Sinne der Psychodermatologie, werden selbstschädigende Handlungen an der Haut definiert, die unmittelbar oder mittelbar zu einer objektivierbaren klinisch relevanten Schädigung des Integumentes führen. Die schädigende Handlung erfolgt im Verborgenen. Der Zusammenhang zwischen klinischem Befund und der verursachenden Aktivität des Patienten ist für den Arzt häufig nicht unmittelbar erkennbar. In der Mehrzahl handelt es sich hierbei um so genannte Borderline-Patienten, Patienten mit deutlichen Persönlichkeitsstörungen, einer Suchtproblematik oder nicht verarbeiteten Missbrauchserfahrungen. Definitionsgemäß gehört die Heimlichkeit, das bewusste Verschweigen über die Zusammenhänge der dermatologischen Symptome, zu dem zentralen Wesen des Artefaktes. Kennzeichnendes Merkmal ist, dass keine die Symptomatik erklärende und/oder eine sekundär induzierte Hauterkrankung vorliegt.
Einteilung
Artefakte werden unterteilt in Simulationen, Paraartefakte oder Pseudoartefakte (Artefakte die unbewusst erfolgen [wahnhafte Störungen]), echte Artefakte (Impulskontrollstörungen).
- Simulationen: Dermatosen, bei denen sich der Patient durch externe Anreize motiviert (z.B. Rentenbegehren), absichtlich körperliche Schäden beifügt, so dass ein forensisches Umfeld der Symptomdarbietung existiert. Das klinische Bild des simulativen Artefaktes ist ganz wesentlich von der Art der Manipulation geprägt. Das "Unorganische" Manipulative der Hautsymptomatik folgt bestimmten Regeln, die sich nach einem einfachen Prinzip erfassen lassen.
- Sonderformen sind dagegen das Münchhausen-Syndrom mit der Trias: Krankenhauswandern, Pseudologia phantastica und Selbstverletzung.
- Eine weitere Spielart ist das Münchhausen-Syndrom by proxy, bei dem meist Kinder von ihren Bezugspersonen verletzt werden, um einen Kontakt mit medizinischen Behandlern herzustellen.
- Paraartefakte (Beispiel: Dermatozoenwahn): Der Dermatozoenwahn gilt als hautbezogene wahnhafte Störung. Der Krankheitsbeginn im meist späten Erwachsenenalter vor allem bei Frauen, weist auf die Häufigkeit sozialer Isolierung dieser Patientinnen hin. Belastende Lebensereignisse haben einen verstärkenden Einfluss auf die Erkrankung. Es bestehen oft ein hoher Leidensdruck und deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität und finanzielle Probleme durch die ständige Beschäftigung mit dem Wahn und entsprechenden Maßnahmen. Die Erkrankung macht aus differentialdiagnostischer Sicht keinerlei Zuordnungsschwierigkeiten, weil sich der Patient selbst zu erkennen gibt. Er outet sich mit Wahnvorstellungen, indem er nach kurzem Überbrückungsgespräch ein Tütchen mit Schuppen vorzeigt. Diesen Schuppen werden wahnhaft kleine Parasiten zugeordnet, die zu bestimmten Zeiten oder dauerhaft in der Haut verschiedenartige Symptome hervorrufen. Es nutzt auch absolut nichts dem Patienten zu erklären, dass es sich bei dem Mitbringsel nicht um Parasiten handele, sondern bloß um harmloses Schuppenmaterial. Derartige Gespräche sind Zeitverschwendung. Der Patient akzeptiert auch insgeheim eher eine chronische Hauterkrankung als eine psychiatrische Erkrankung. Die Haut selbst zeigt unterschiedliche alte Kratzeffekte und nicht mehr. Kratzeffekte an Stellen die dem Patienten leicht zugänglich sind. Bemerkenswert auch wie solche Patienten auch während der Konsultation des Arztes mit ihrer Haut umgehen. Die Haut wird zwischen den Fingern anscheinend völlig gefühllos durchgeknetet, gequetscht oder mit den Nägeln spitz zerkratzt.
Merke! Der Patient outet sich selbst; die Erkrankung ist bewusstseinsnah!
- Echte Artefakte (Beispiel: Trichotillomanie): Echte Artefakte stellen eine Gruppe von Erkrankungen dar, bei denen die Patienten psychische Spannungssituationen oder neurotische Konflikten aufbauen. Sie führen zu einem nicht beherrschbaren Drang die Haut zu manipulieren. Impulskontrollstörungen können Symptome einer Zwangstörung sein, die Symptomatik kann auch mit einer Essstörung kombiniert auftreten. Im Gespräch wird meist ein Zusammenhang der Haut- oder Schleimhautveränderung mit der chronischen Irritation verneint. Der Patient erscheint verschlossen, wenig kooperativ. Die sehr unterschiedlichen Krankheitsbilder erscheinen selbst als geschlossene morphologische Einheiten. Zu den Impulskontrollstörungen zählen (nach Häufigkeiten geordnet):
- Trichotillomanie (gewohnheitsmäßiges Haarausreißen)
- Onychodystrophie (durch Nagelbeißen)
- Acne excoriée (des jeunes filles) (übersteigerte Manipulation einer gering ausgeprägten Akne vulgaris)
- Morsicatio buccarum (nervöses Beißen oder Lutschen der Wangenschleimhaut)
- Cheilitis simplex durch gewohnheitsmäßiges und ständiges Ablecken der Lippen sog. Lippenleckekzem)
- Kratzattacken ohne Juckreiz (critical life events)
- Trockenheitsekzeme (durch zwanghaftes Dauerwaschen oder Abbürsten der Haut)
- Unechte Fingerknöchelpolster (Pseudo-Knuckle-Pads) durch nervöses Handreiben.
Merke! Impulskontrollstörungen führen zu einem nicht beherrschbaren Drang die Haut zu manipulieren.
Ätiopathogenese
Artefakten liegen sehr unterschiedliche Ursachen zugrunde:
- Sog. Bilanzartefakte oder Artefakte im engeren Sinne:
Erzeugung von Hautläsionen zur Erlangung materieller Vorteile (z.B. Rente) oder um unangenehmen Pflichten zu entgehen (z.B. Wehrdienst, Berufstätigkeit). - Psychische Störungen (v.a. Neurosen): Täuschungsabsicht kann vorhanden sein, um ideelle Vorteile zu erlangen (z.B. Zuwendung der Angehörigen), aber auch völlig fehlen wie bei Münchhausen-Syndrom, Trichotillomanie, Trichotemnomanie, Onychophagie (Paraartefakte). Im weitesten Sinne gehört hierzu auch der Dermatozoenwahn.
- Aggravieren einer ursprünglich somatischen Grunderkrankung, die sich schließlich als unabhängige Erkrankung verselbständigt. Typische Beispiele sind Acne excoriée des jeunes filles, das Unterhalten von Kontaktallergien durch heimliche Applikation des Allergens, periorale Ekzeme durch gewohnheitsmäßiges Lecken der Region, degeneratives Handekzem und Exsikkose der Haut durch neurotischen Waschzwang, rezidivierende Erysipele der Nasen- und Ohrregion durch gewohnheitsmäßiges, scharfkantiges Manipulieren.
Häufig handelt es sich um eine Kombination verschiedener Ursachen. Es gibt vielfältige Methoden zur Auslösung von Artefakten. Meist sind es chemische Substanzen (Säuren, Laugen) oder Instrumente (Nadeln, Rasierklingen, abschnürende Gummibänder), außerdem mechanisch durch Kratzen, Quetschen oder durch Injektion irritierender Stoffe (Terpentin, Kohlepartikel, Bakterienaufschwemmungen). Die hierdurch ausgelöste "artifizielle Pannikulitis" unterscheidet sich von anderen Pannikulitiden durch die Lokalisation (Erreichbarkeit) und durch die Akuität der Entzündung (häufig kontaminiert, meist einschmelzende Pannikulitis).
Manifestation
Lokalisation
Klinisches Bild
Diagnose
Therapie
Rasches Abheilen unter Zinkleimverband oder Okklusivverbänden (diagnostisch nahezu beweisend für artifiziellen Mechanismus), zur Wundheilungsförderung z.B. Varihesive. Bei Bilanzartefakten Aufdeckung der Manipulation, bei den anderen Formen steht Psychotherapie im Vordergrund, s. Münchhausen-Syndrom. Beim Dermatozoenwahn sollte ggf. eine einmalige kontrollierte antiparasitäre Therapie durchgeführt werden.
Hinweis(e)
- Das Feld artifizieller Hauterkrankungen ist weit und reicht von dem reinen "klassischen" Artefakt bis hin zu dermatologischen (und internistischen) Krankheitsbildern bei denen eine artifizielle Komponente die Hautveränderungen wesentlich oder marginal, bewusst oder unbewusst auslöst, beeinflusst oder gar unterhält. Die exogenen auf die Haut aufgeprägten lineären oder andersartigen "wunderlichen" Figuren, bereiten aus morphologischer Sicht heraus im Allgemeinen keine diagnostischen Schwierigkeiten.
- Besonderes betrachtet werden muss die Gruppe der "Self inflicted skin injuries" bei Kindern, denen häufig intellektuelle Beeinträchtigungen oder Entwicklungsstörungen zugrunde liegen (z.B. Lesch-Nyhan-Syndrom, Cornelia de Lange-Syndrom u.a.). Weiterhin sollte differenzialdiagnostisch auch ein battered-child-Syndrom erwogen werden.
- Liegt ein Rentenbegehren und damit ein finanzielles Interesse an der Unterhaltung des Artefaktes vor, wird der Patient dieses Anliegen nach einem gewissen Zeitraum vortragen. Liegt dem Artefakt eine psychische Störung zugrunde, so werden bestimmte Körperareale mit demonstrablem Signalcharakter bevorzugt.