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Stevens-Johnson-SyndromL51.1
Synonym(e)
Erstbeschreiber
Definition
Akutes, meist durch fieberhafte, respiratorische Prodromi und allgemeinem Krankheitsgefühl gekennzeichnetes Krankheitsbild, das 1-14 Tage später durch eine schwere erosive Mukositis von mindestens zweier Schleimhautregionen (z.B. Konjunktiven, Mundschleimhaut, Genitalschleimhaut) gekennzeichnt ist. Hinzu kommt häufig ein generalisiertes, meist stammbetontes Exanthem mit roten, klein- (0,2-0,4cm)- bis (durch Konfluenz) großflächigen (>20cm) Flecken und Patches, teilweise angedeutet kokardenartig, auf denen subepitheliale feste Blasen und flächige Hautablösungen (handtuchartig zusammengeschobene Exfoliationen) entstehen.
Da es fließende Übergänge zwischen SJS und toxischer epidermaler Nekrolyse (TEN) gibt (SJS-TEN-Overlap), wird das SJS als Krankheit definiert, bei der die Hautablösungen < 10% der KOF beträgt (rund 60% aller Patieten mit SJS gehört zu dieser Gruppe)
Bei Hautablösung zwischen 10 und 30% wird eine Übergangsform SJS/TEN (SJS-TEN-Overlap) definiert (25% der Patienten).
Bei Hautablösung > 30% wird die Diagnose TEN gestellt (15% der Patienten).
SJS, SJS/TEN und TEN werden als eine Entität mit unterschiedlicher Expressivität und Ausprägung aufgefasst, wobei alle klinischen Varianten durch hämorrhagischen, erosiven Schleimhautbefall gekennzeichnet sind.
Vorkommen/Epidemiologie
Das SJS und die TEN sind insgesamt selten. In Deutschland wird mit einer Inzidenz von 1,8/1 Mio Menschen/Jahr in USA mit 1,9/1 Mio Menschen/Jahr gerechnet. Additive Risikofaktoen ist die HIV-Infektion. Hierbei steigt das Erkrankungsrisiko gegenüber der Normalbevölkerung um das 1000-fache.
Ätiopathogenese
Stevens-Johnson-Syndrom wie auch eine TEN werden als T-Zell-vermittelte Reaktionen angesehen. Aktuelle Daten deuten daraufhin, dass bestimmte Allele der humanen Leukozytenantigene (HLA: HLA-A 3101;HALA-B5801) in die Aktivierungskette von CD8+ zytotoxischen T-Zellen und NK-Zellen involviert sind. CD8+ T-Lymphozyten sind machen in der frühen Phase der Erkrankung das epidermale Entzündungsinfiltrat aus. Dies führt zur Freisetzung von Zytokinen, die die Apotose von Keratinozyten induzieren. So korreliert das kationische Zytokin Granulysin in der Blasenflüssigkeit mit dem Schweregrad der Erkrankung. Weiterhin spielt das Zusammenspiel von Fas und Fas-Liganden auf epidermalen Keratinozyten bei der Induktion der Apoptose eine entscheidende Rolle. Löslicher FasL (s.u. Fas-Ligand) ist im Serum bei Patienten mit schweren Arzeimittelreaktionen nachweisbar (Hertel M 2018).
Alleinige oder Ko-Auslöser sind (Creamer D et al. 2016):
- Medikamente: >75% ( NSAR insbes. Ibuprofen u. Naproxen, Allopurinol, Sulfonamide (die Kombination von Trimethoprim/Sulfmethoxazol wird in versch. Studien als häufigste Ursache angeführt! (Micheletti RG et al. 2018), Antikonvulsiva (Carbamazepin, Phenytoin, Phenobarbital, Lamotrigin, Valproinsäure), Penicilline, Doxycyclin, Tetracyclin, Cephalosporine; Tyrosinkinase-Inhibitoren).
- Bakterielle Infekte: <25% (Mycoplasmen, Yersinien, Chlamydien, verschiedene Kokkenarten)
- Virale Infekte: Enteroviren, Adenoviren, Masern, Mumps, Influenza-Viren, Retroviren (HIV)
- Pilzinfektionen, Coccidien, Histoplasmen
- Maligne Tumoren
- Nach Impfungen ( Masern, Mumps, Röteln)
- Idiopathisch.
Manifestation
In größeren Studien lag das mittlere Alter bei rund 50 Jahren.
Klinisches Bild
Das SJS ist initial gekennzeichnet durch uncharakteristische, fieberhafte, katarrhalische Prodromalerscheinungen, ggf. mit eitrigem Schnupfen oder Konjunktivitis. Schleimhautveränderungen (Stomatitis, Cheilitis: 100% der Fälle): Nach einer Latenz von wenigen Tagen (bis zu 14 Tagen) entwickelt sich ein akut auftretendes, schmerzendes Enanthem, das sich meist in mehr als einer Schleimhautregion ausbreitet. Rasche Ausbildung von flächigen, fibrinbedeckten Erosionen und Ulzera.
Hauterscheinungen: Parallel zu den Schleimhautveränderungen entwickeln sich Hauterscheinungen unterschiedlichen Ausmaßes, von wenigen schießscheibenartigen Einzelläsionen bis hin zu einem großflächigen, scarlatiniformen Exanthem. Innerhalb von 1-2 Tagen Ausbildung großer, schlaffer, leicht rupturierender Blasen am ganzen Körper (hierbei können fließende Übergänge zur toxischen epidermalen Nekrolyse auftreten s.o.). Später Austrocknen der Blasendecken und Auftreten von groblamellöser Abschuppung.
Ein wichtiger klinisch-diagnostischer Befund ist das positive Nikolski-Phänomen, die Verschiebung der Hautoberfläche bei tangentialem Druck!
An den Lippen treten flächige, fest haftende hämorrhagische Krusten auf.
Augenbeteiligungen (90% der Fälle): Purulente Konjunktivitis
Genitalschleimhäute: Häufige Mitbeteiligung als schmerzhafte, erosive Vulvitis und Balanitis (Balanoposthitis).
Seltener sind Gelenkbeteiligungen
Außerdem können eine generalisierte Lymphadenopathie und Hepato-Splenomegalie auftreten.
Labor
Erhöhung der Akute-Phase-Indikatoren (BSG, CRP, Leukozytose). Inkonstant sind Eosinophilie (20%), Anämie (15%), erhöhte Leberwerte (15%), Proteinurie und Hämaturie (5%) vorhanden.
Histologie
Das histologische Bild des SJS entspricht dem der klassischen akuten zytotoxischen Interface-Dermatitis mit korbgeflechtartigem (orthokeratotischem) Stratum corneum, ausgeprägtem intra- und subepidermalem Ödem bis hin zur Blasenbildung. Später extensive epidermale Nekrose. Meist eher schütteres lymphozytäres Infiltrat. Zahlreiche dyskeratotische Keratinozyten.
Differentialdiagnose
Komplikation(en)
Therapie
Bei leichten Formen: Mittelstarke bis starke topische Glukokortikoide wie 0,1% Triamcinolon-Creme (Triamgalen, Delphicort, R259 ), 0.05-1% Betamethason-Lotion/Salbe/Creme (Betnesol, Diprosone, Hydrophile Betamethasonvalerat-Emulsion) oder Clobetasolpropionat-Creme (Clobegalen, Dermoxin, Hydrophile Clobetasolpropionat-Creme (0,05%)).
Bei schweren Verlaufsformen (s.a. Toxische epidermale Nekrolyse): Intensiv-medizinische Betreuung. Flüssigkeitsbilanzierung, ausreichend Volumenzufuhr, Isolierung des Patienten, sterile Bekleidung für ärztliches und Pflegepersonal. Lagerung auf Metalline Folie, ggf. Vakuummatratze. Bei nässenden Veränderungen Umschläge mit Polihexanid (Serasept, Prontoderm), Chinolinol-Lösung (z.B. Chinosol 1:1000 oder R042 ) oder 2%ige Kaliumpermanganat-Lösung, sonst antiseptische Salben/Cremes wie 2-5% Clioquinol-Vaseline/Salbe (Linola-Sept), Silber-Sulfadiazin (z.B. Flammazine) oder besser Gazeverbände mit Antibiotikazusätzen wie Chlorhexidin (Bactigras).
Befall der Analregion: Antiseptische Sitzbäder z.B. mit Kaliumpermanganat (hellrosa) sowie Glukokortikoid-Cremes (s.o.). Passagere Gabe von milden Laxantien zur Stuhlerweichung.
Mundschleimhautbefall: Milde Spülungen bzw. anästhesierende Lösungen (z.B. Dolo-Dobendan Lösung, Acoin Lösung, Parodontal Mundsalbe, Bepanthen Lsg., Dexpanthenol Lösung R066 ).
Ggf. Umstellung auf passierte Kost oder Flüssigkost; ggf. parenterale Ernährung, falls erforderlich.
Cave! Augenbeteiligung: Behandlung durch Ophthalmologen. Symblepharon-Bildung ist möglich!
Therapie allgemein
Interne Therapie
Glukokortikoide intern wie Prednisolon i.v. (z.B. Solu Decortin H) in hohen Dosen 80-500 mg/Tag, ausschleichen nach Klinik. Bei guter klinischer Besserung Übergang auf Glukokortikoide p.o. wie Prednison (z.B. Decortin Tbl.) 50-100 mg/Tag.
Bewertung: Glukokortikoide in mittlerer bis hoher Dosierung, haben initial und kurzzeitig gegeben quoad vitam einen günstigen Effekt (Schneck J et al. 2008).
Hinischtlich eines frühzeitigen Einsatzes einer IVIG-Therapie sind die Ansichten unterschiedlich. Weder auf Studienebene noch bei Metaanalysen waren positive Effekte hinsichtlich der Letalität nachweisbar (Huang YC et al. 2012)
Prophylaktische antibiotische Abdeckung mit Breitbandantibiotika wie Cefotaxim (z.B. Claforan) 2-3mal/Tag 2 g i.v. ist empfehlenswert. Suffiziente Schmerzmedikation ist erforderlich.
Verlauf/Prognose
Erkrankungsverläufe von 4-6 Wochen. Die Mortalität unbehandelter Patienten wird mit 5-15% angegeben (<10% für SJS; etwa 30% für TEN).
Die Mortalitätsgefahr ist bei Patienten >70 Jahre mit einem Befall der KO > 20% deutlich höher als bei jüngeren Patienten mit vergleichbarem Schweregrad.
Tabellen
Substanzgruppe |
Freiname |
Handelsname |
Sulfonamide |
Acetazolamid |
Diamox, Glaupax |
Sulfamethoxydiazin |
Durenat |
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Sulfacarbamid |
Euvernil |
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Sulfacetamid |
Blephamide |
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Sulfamethoxazol |
Bactrim, Eusaprim |
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Sulfamethyldiazin |
Lidaprim |
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Sulfisomidin |
Aristamid |
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Sulfamerazin |
Berlocombin |
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Sulfadiazin (Sulfanilamid) |
Sulfadiazin-Heyl |
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Pyrazolon-Derivate |
Phenylbutazon |
Ambene, Butazolidin |
Oxyphenbutazon |
Phlogont, Tanderil |
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Metamizol |
Novalgin, Novaminsulfon |
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Antibiotika |
Tetracycline |
Achromycin, Tefilin, Hostacyclin |
Doxycyclin |
Supracyclin |
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Streptomycin |
Streptomycin-Heyl, Streptomycin-Hefa |
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Spiramycin |
Selectomycin, Rovamycine |
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Procain-Penicillin G |
Jenacillin |
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Benzathin Penicillin G |
Tardocillin, Pendysin |
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Antiepileptika |
Diphenylhydantoin/Phenytoin |
Zentropil, Epanutin |
Carbamazepin |
Tegretal, Timonil |
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Phenothiazin-Derivate |
Chlorpromazin |
Propaphenin |
Fluphenazin |
Lyogen, Dapotum |
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Promethazin |
Atosil, Eusedon |
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Barbiturate |
Phenobarbital |
Luminal |
Thiopental |
Pentotal |
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Hexobarbital |
Evipan |
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Pentobarbital |
Neodrom |
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Antimalariamittel |
Chinin |
Limptar, Chininum |
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Desinfektionsmittel (Halogene) |
Jod |
Betaisodona, Braunovidon |
Chloramine |
Chloramin T, Clorina |
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Belladonnaalkaloide |
Atropa belladonna, Atropinsulfat |
Atropin, Contramutan |
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H1-Blocker |
Olopatadin |
Opatanol |
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NSAR |
Acetylsalicylsäure |
ASS |
Diclofenac |
Voltaren |
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Ibuprofen |
Ibuprofen |
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|
Naproxen |
Naproxen |
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Weitere |
Ophiopogonis tuber |
Eberu |
Hinweis(e)
Je nach Expressivität und Lokalisation der Haut- und Schleimhautveränderungen wurden in der Vergangenheit unterschiedliche Begriffe verwendet, deren Eigenständigkeit heute bezweifelt wird:
- Erythema multiforme major
- Dermatostomatitis Baader
- Stevens-Johnson-Fuchs-Syndrom (Syndroma muco-cutaneo-oculare Fuchs)
- Fiessinger-Rendu-Syndrom (Ectodermose érosive pluriorificielle).
Die Begrifflichkeiten haben nur noch eine historische Bedeutung. Sie werden heute zusammen mit dem Stevens-Johnson-Syndrom und der toxischen epidermalen Nekrolyse (TEN) als ein Krankheitsspektrum mit unterschiedlichen Schweregraden aufgefasst.
Literatur
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- Chantaphakul H et al. (2015) Clinical characteristics and treatment outcome of Stevens-Johnson syndrome and toxic epidermal necrolysis. Exp Ther Med 10: 519-524
- Creamer D et al. (2016) UK guidelines for the management of Stevens-Johnson syndrome/toxic epidermal
necrolysis in adults. J Plast Reconstr Aesthet Surg 69:e119-e153. - Dodiuk-Gad RP et al. (2015) Stevens-Johnson Syndrome and Toxic Epidermal Necrolysis: An Update. Am J Clin DermatolPubMed PMID: 26481651.
- Hebert AA et al. (2004) Intravenous immunoglobulin prophylaxis for recurrent Stevens-Johnson syndrome. J Am Acad Dermatol 50: 286-288
- Hertl M (2018) Schwwere kutane Arzenimittelreaktionen. In: Braun-Falco`s Dermatologie, Venerologie Allergologie G. Plewig et al. (Hrsg) Springer Verlag S 625
- Huang YC et al. (2012) The efficacy of intravenous immunoglobulin for the treatment of toxic epidermal
necrolysis: a systematic review and meta-analysis.Br J Dermatol: 167:424-432. - Johnston GA et al. (2002) Neonatal erythema multiforme major. Clin Exp Dermatol 27: 661-664
- Laffitte E et al. (2004) Severe Stevens-Johnson syndrome induced by contrast medium iopentol (Imagopaque). Br J Dermatol 150: 376-378
- Micheletti RG et al. (2018) Stevens-Johnson Syndrome/Toxic Epidermal Necrolysis: A Multicenter Retrospective Study of 377 Adult Patients from the United States. J Invest Dermatol 138:2315-2321.
- Mockenhaupt M (2014) Schwere arzneimittelinduzierte Hautreaktionen. Hautarzt 65: 415-423
- Pereira FA et al. (2007) Toxic epidermal necrolysis. J Am Acad Dermatol 56: 181-200
- Schmid MH, Elsner P (1999) An unusual hemorrhagic variant of Stevens-Johnson syndrome in an HIV-infected patient. Hautarzt. 50: 52-55
- Schneck J et al. (2008) Effects of treatments on the mortality of Stevens-Johnson syndrome and toxic
epidermal necrolysis: A retrospective study on patients included in the
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