Synonym(e)
Definition
Bei den Retroviridae handelt es sich um eine sehr große Familie von komplex gebauten, behüllten, RNA-Viren mit zahlreichen tierspezifischen Arten (pathogen für Vögel und Säugetiere) sowie mit 2 wichtigen humanpathogenen Gattungen - Deltavirus und Lentivirus - mit ihren Arten HTLV 1, HTLV 2 sowie HIV 1, HIV 2. Das der Gattung Gammaretrovirus zugeordnete „Xenotropic murine leukemia virus-related virus“ ist erstmals im Jahr 2006 als neuartiges menschliches Pathogen in Gewebeproben von Männern mit Prostatakrebs beschrieben worden. Seine pathogene Bedeutung ist noch zu klären.
Die Virionen der Retroviridae sind kugelförmige umhüllte Viruspartikel mit einer Größe von 80-100 nm im Durchmesser. Die Glykoprotein-Oberflächenprojektionen sind etwa 8 nm lang. Der innere Kern wird durch das virale Nukleokapsid gebildet. Das scheinbar kugelförmige Nukleokapsid (Nukleoid) ist bei Mitgliedern der Gattung Betaretrovirus exzentrisch, bei Mitgliedern der Gattungen Alpharetrovirus, Gammaretrovirus, Deltaretrovirus und Spumavirus konzentrisch und bei Mitgliedern der Gattung Lentivirus stab- oder kegelstumpfförmig. Die Virionen der Retroviridae sind empfindlich gegenüber Hitze, Detergenzien und Formaldehyd. Die Oberflächenglykoproteine können teilweise durch proteolytische Enzyme entfernt werden. Die Virionen sind relativ resistent gegen UV-Licht.
Einteilung
Die derzeit gültige Taxonomie durch das International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV) weist in der Ordnung Orthovirales die Familie der Retroviridae (Retroviren) mit in 2 Unterfamilien und 11 Gattungen aus:
Unterfamilie: Orthoretroviren (Orthoretrovirinae)
Gattungen:
- Alpharetrovirus
- Betaretrovirus (mit Species Humanes Mammatumorvirus)
- Gammaretrovirus
- Deltaretrovirus (mit Species Primate T-lymphotropic virus 1 (HTLV-1), Primate T-lymphotropic virus 2 (HTLV-2))
- Epsilonretrovirus
- Lentivirus (mit Species HIV-1, HIV-2, SIV, BIV, FIV)
- Unterfamilie: Foamy- oder Spumaretroviren (Spumaretrovirinae)
Als humanpathogen sind bisher 5 Arten von Retroviren bekannt:
In der Gattung Deltavirus:
- Humanes T-lymphotropes Virus 1 (HTLV-1)
- Humanes T-lymphotropes Virus 2 (HTLV-2)
In der Gattung Lentivirus:
- Humanes Immundefizienz-Virus-1 (HIV-1)
- Humanes Immundefizienz-Virus Typ II (HIV-2)
In der Gattung Gammaretrovirus
- Xenotropic murine leukemia virus-related virus (XMRV)
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Allgemeine Information
Struktur des Virus:
Das Virusgenom, das für Mitglieder der Unterfamilie Orthoretrovirinae charakteristisch ist, besteht aus einem Dimer aus linearer, positiv-sinniger ssRNA, wobei jedes Monomer 7-13 kb groß ist. Die RNA macht etwa 2 % des Trockengewichts des Virions aus. Die Monomere werden durch Wasserstoffbrückenbindungen zusammengehalten. Jedes RNA-Monomer ist am 3′-Ende polyadenyliert und besitzt am 5′-Ende eine Cap-Struktur und ist mit einem spezifischen tRNA-Molekül assoziiert, das an eine Region (die sogenannte Primer-Bindungsstelle) nahe dem 5′-Ende der RNA basengepaart ist und etwa 18 nt am 3′-Ende der tRNA umfasst.
Proteine: Proteine machen etwa 60 % des Trockengewichts des Virions aus. IN der Hülle findet sich das für die Adsorption wichtige zuständige Glykoprotein env (gp160 – Bemerkung: env steht für envelope). Dies setzt sich aus dem aufgelagerten SU-Protein (gp 120/Oberfläche – Bindung an den zellulären CD4-Rezeptor) und dem TM-Protein (gp 41/Transmembran – fusogene Kapazität). Beide Proteine werden durch das virale env-Gen (Envelope-Gen) kodiert. Einige Mitglieder der Unterfamilie Spumaretrovirinae haben ein drittes env-Protein. Weiterhin gibt es 3-6 interne, nicht-glykosylierte Strukturproteine (kodiert durch das gag-Gen).
M (Matrixprotein): Das M-Protein (p17) ist oft acyliert mit einem Myristylrest, der kovalent an das aminoterminale Glycin gebunden ist. Es ist unterhalb der Hülle netzartig angelagert. Die Hülle schließt das Kapsid ein, das bei den Lentiviren durch das Kapsidprotein CA(p24) konisch ausgebildet wird. Außerdem sind im Kapsid 3 Enzyme vorhanden, die für die Replikation und Reifung wichtig sind: reverse Transkriptase/RNAse (TR/NASE –p66/51-), Integrase (INT . p35-), Protease (PROT – p9-). Weitere im Virion vorhandene Proteine sind das akzessorische Protein oder das mit Kapsid interagierende Protein p16. Die komplexen Retroviren der Gattungen Deltaretrovirus, Epsilonretrovirus, Lentivirus und Spumavirus kodieren ebenfalls für nicht-strukturelle Proteine. Viele dieser Viren kodieren weiterhin für Transkriptionstransaktivatoren, die für die Expression der LTR-Promotoren erforderlich sind, oder für Proteine, die für den RNA-Export aus dem Zellkern benötigt werden.
Lipide: Lipide machen etwa 35 % des Trockengewichts des Virions aus. Sie werden aus der Plasmamembran der Wirtszelle gewonnen.
Kohlenhydrate: Virionen bestehen aus ca. 3 Gew.-% Kohlenhydraten. Dieser Wert variiert je nach Virus. Meist sind beide Hüllproteine (gp120/gp41) glykosyliert.
Genomorganisation und Replikation: Die Viren der Mitglieder der Unterfamilie Orthoretrovirinae tragen zwei Kopien des RNA-Genoms (gRNA). Sie formen mit dem Protein NC (p7) Nukleokapside. Infektiöse Viren haben vier Hauptgene, die für die Virionproteine in der Reihenfolge kodieren: 5′-gag-pro-pol-env-3′. Einige Retroviren enthalten Gene, die für nicht-strukturelle Proteine kodieren, die für die Regulation der Genexpression und der Virusreplikation wichtig sind. Andere tragen von Zellen abgeleitete Sequenzen, die für die Pathogenese wichtig sind. In vielen Fällen bilden die aus der Zelle stammenden Sequenzen ein fusioniertes Gen mit einem viralen Strukturgen, das dann in ein chimäres Protein (z. B. Gag-Onc-Protein) übersetzt wird.
Replikation:
Der Eintritt in die Wirtszelle wird durch die Interaktion zwischen dem Virion-SU-Glykoprotein (gp160) und spezifischen Rezeptoren an der Wirtszelloberfläche vermittelt. Es sind zahlreiche „Entry-Rezeptoren“ identifiziert worden. Für das humane Immundefizienz-Virus (HIV) sind sowohl CD4 (ein Immunglobulin-ähnliches Molekül mit einer einzigen Transmembranregion) als auch die Chemokin-Rezeptoren CCR5 bzw. CXCR4 für die Membranfusion erforderlich. Durch die Interaktion von Ligand und Rezeptor kommt es zur Fusion der Virushülle mit der Plasmamembran. Das Kapsid wird in das Zytoplasma entlassen.
Das virale Genom ist zwar von positiver Polarität, dient aber nicht zur unmittelbaren Translation an den Ribosomen. Vielmehr dient es als Matritze für die im Kapsid enthaltene reverse Transkriptase (RT). Die RT fertigt von der RNA eine doppelsträngige DNA-Kopie an. In ihrer endgültigen Form enthält die lineare dsDNA, die vom viralen ssRNA-Genom abgeleitet ist, lange terminale Repeats (LTRs), die aus einzigartigen Sequenzen vom 3′ (U3) und 5′ (U5) Ende der viralen RNA bestehen und eine wiederholte Sequenz (R) flankieren, die sich in der Nähe beider Enden der RNA befindet. Der Prozess der reversen Transkription ist durch eine hohe Rekombinationshäufigkeit gekennzeichnet, die durch den Transfer der RT von einer Template-RNA auf die andere entsteht. Der Mechanismus der reversen Transkription ermöglicht hohe Rekombinationsraten und genetische Diversität für viele der Retroviren. Die synthetisierte DNA-Kopie wird dann in Form des sog. „Präintegrationskomplexes“ durch die Kernpore in den Zellkern transportiert. Die im Präintegrationskomplex enthaltene Integrase sorgt für die Integration der viralen DNA in das Genom des Wirtes. Dieser Zustand wird als Provirus bezeichnet. Das Virus kann in dieser Form in einer ruhenden Zelle sehr lange latent persistieren. Bei Aktivierung der Wirtszelle beginnt die zelluläre RNA-Polymerase mit der Transkription der proviralen DNA. Die entstehenden mRNAs kodiert für akzessorische Proteine (Hof H et al. 2019).
Nach Translation lagern sich die Nukleokapside mit Kapselproteinen, Enzymen und weiteren akzessorischen Proteinen zusammen. Es kommt durch die Aktivität der viralen Protease zur Kapsidbildung. Die Kapside werden bei den humanpathogegenen Arten an der Plasmamembran (bei der Mehrzahl der Gattungen) assembliert und durch einen Prozess des Knospens aus der Zelle freigesetzt. Die Knospung scheint bevorzugt an spezialisierten Membran-Mikrodomänen, so genannten Lipid Rafts, stattzufinden. Die Polyproteinprozessierung der internen Proteine erfolgt gleichzeitig mit oder unmittelbar nach der Reifung der Virionen. Während der Reifung des Retrovirus induziert die Spaltung des strukturellen Vorläufer-Gag-Polyproteins durch die virale Protease eine architektonische Umstrukturierung des Viruspartikels von einer unreifen in eine reife, infektiöse Form (Pornillos O et al. 2019).
Antigene Eigenschaften: Die Virionproteine enthalten typspezifische und gruppenspezifische Determinanten. Einige typspezifische Determinanten der Hüllglykoproteine sind an der Antikörper-vermittelten Virusneutralisation beteiligt. Gruppenspezifische Determinanten werden von Mitgliedern einer Serogruppe geteilt und können auch zwischen Mitgliedern verschiedener Serogruppen innerhalb einer bestimmten Gattung geteilt werden. Es gibt Hinweise auf schwache Kreuzreaktivitäten zwischen Mitgliedern verschiedener Gattungen. Epitope die T-Zell-Reaktionen auslösen, befinden sich auf vielen Strukturproteinen. Antigene Eigenschaften werden bei der Klassifizierung von Mitgliedern der Familie Retroviridae nicht verwendet.
Biologische Eigenschaften:
Retroviren sind als exogene Infektionserreger von Vertebraten weit verbreitet. Endogene Proviren, die irgendwann durch Infektion von Keimbahnzellen entstanden sind, werden nach Mendelschen Regeln vererbt. Sie sind bei Wirbeltieren weit verbreitet und können bis zu 10 % der genomischen DNA ausmachen. Die große Mehrheit hat inaktivierende Mutationen erlitten und kann kein infektiöses Virus produzieren. Einige wenige können nach Aktivierung signifikante biologische Effekte ausüben, entweder durch Replikation in einer von exogenen Viren nicht zu unterscheidenden Weise oder nach Rekombination mit replikationskompetenten Viren.
Klinisches Bild
Retroviren werden mit einer Vielzahl von Krankheiten in Verbindung gebracht. Dazu gehören: Malignome, einschließlich bestimmter Leukämien, Lymphome, Sarkome und anderer Tumore mesodermalen Ursprungs; Mammakarzinome und Karzinome von Leber, Lunge und Niere; Immundefekte (wie z. B. AIDS); Autoimmunkrankheiten; Erkrankungen der unteren Motoneuronen; und verschiedene akute Krankheiten mit Gewebeschäden. Einige Retroviren scheinen nicht-pathogen zu sein. Die Übertragung von Retroviren erfolgt horizontal über eine Reihe von Wegen, einschließlich Blut, Speichel, sexuellem Kontakt usw., und über die direkte Infektion des sich entwickelnden Embryos oder über Milch oder perinatale Wege. Endogene Retroviren werden vertikal durch Vererbung von Proviren übertragen.
Hinweis(e)
Die humanpathogenen Retroviren sind denen anderer Primaten so eng verwandt, dass häufig beide Gruppen unter der Bezeichnung Primaten-Retroviren zusammengefasst werden. Es wird davon ausgegangen, dass die humanen Retroviren durch Übertragung von Affen-Retroviren auf den Menschen entstanden sind. Bei HTLV 1(Humanes T-Zell-Leukämievirus 1/2) und HTLV 2 hat diese Übertragung wahrscheinlich schon vor Jahrtausenden stattgefunden. Für HIV 1 (Humanes Immundefizienzvirus 1/ 2) und HIV 2 wahrscheinlich erst im 20. Jahrhundert.
LiteraturFür Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio
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- Leis J et al. (1988) Standardized and simplified nomenclature for proteins common to all retroviruses. J Virol 62: 1808-1809.
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- Varmus H (1988) Retroviruses. Science 240:1427-1435.