Synonym(e)
Definition
Die Sulfonylharnstoffe wurden in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt (Schernthaner 2019). Die Entdeckung der SH war seinerzeit ein Zufallsbefund. Bei der Behandlung mit antibakteriell wirksamen Sulfonamiden bemerkte man klinisch eine BZ- Senkung. Daraufhin wurden aus Sulfonamiden die SH entwickelt (Mark 2002).
Die Sulfonylharnstoffe (SH) zählen zur Gruppe der oralen insulinotropen Substanzen. Zu ihnen zählen:
- Glibenclamid
- Gliclazid
- Glimepirid
- Gliquidon
Sie werden im Algorithmus der Bundesärztekammer (2021) als eine Option der 2. oder 3. Stufe in Kombination mit Metformin empfohlen.
SH werden in erster Linie über den Harn ausgeschieden. Eine Ausnahme bildet Gliquidon, welches neben der Harnausscheidung zu 86 % bilär ausgeschieden wird (Schernthaner 2019).
Einteilung
- 1. Generation:
- Chlorpropamid
- Tolazamid
- Tolbutamid
SH der 1. Generation haben eine relativ lange Halbwertszeit, so dass Hypoglykämien recht häufig auftraten. Es bestehen außerdem vielfache Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Aus diesen Gründen werden Sulfonylharnstoffe der 1. Generation inzwischen nicht mehr verwendet.
- 2. Generation:
- Glibenclamid
- Gliclazid
- Gliquidon
Hierbei tritt die Wirkung rascher ein, die Halbwertszeit ist kürzer, der postprandiale Glukoseanstieg wird besser abgedeckt.
- 3. Generation:
- Glimepirid
(Kasper 2015)
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Allgemeine Information
Pharmakodynamik (Wirkung):
SH blockieren die Kaliumkanäle der Betazelle. Dadurch kommt es zu einem Kalziumeinstrom in die Zelle, durch welchen wiederum Insulin freigesetzt wird (Schernthaner 2019).
SH senken den Nüchternblutzucker und den postprandialen BZ (Kasper 2015) und führen zu einer Abnahme der hepatischen Glukoneogenese (durch verbesserte Insulinisierung der Leber).
(Wehling 2006)
Das Risiko für mikrovaskuläre Ereignisse wird laut UKPD- Studie vermindert (Herold 2020)
Indikationen:
- Typ 2 DM soweit durch Diät, Bewegung und Gabe von Metformin das Therapieziel nicht erreicht werden kann (Herold 2020)
- noch nicht lange bestehender Typ 2 DM (< 5 Jahre) mit noch vorhandener endogener Insulinproduktion (Kasper 2015)
- MODY- Patienten „Maturity-Onset Diabetes of the Young“:
Bei MODY 1 und MODY 3 ist die Umstellung von Insulin auf SH – selbst nach längerer Verabreichung – i. d. R. problemlos möglich (Schernthaner 2019)
- normal bis leicht übergewichtige Patienten mit Typ 2 DM
- bei Kontraindikation für Metformin (Luippold 2012)
Wegen der z. T. erheblichen unerwünschten Wirkungen (s. u.) spielen SH inzwischen in Deutschland nur noch eine untergeordnete Rolle
Dosierung und Art der Anwendung:
SH sollten initial niedrig dosiert werden und anschließend alle 1 – 2 Wochen nach entsprechender BZ- Selbstkontrolle erhöht werden.
- Glimepirid 1 mg / d, nach 1 – 2 Wochen Steigerung auf 2 mg / d. Die Maximaldosis liegt bei 6 mg / d (Diederich 2020). Bei Dosierungen von > 6 mg / d findet sich eine überproportionale Häufigkeit an Nebenwirkungen (Herold 2020).
- Glibenclamid: 3,5 – 10,5 mg / d (Luippold 2012)
Die Einnahme der SH sollte unmittelbar vor der Mahlzeit erfolgen.
In der Einstellungsphase ist der Patient unbedingt über die eingeschränkte Teilnahme am Straßenverkehr aufzuklären (schriftlich bestätigen lassen).
(Herold 2020)
Eine einmalige tägliche Gabe ist möglich bei:
- Glimepirid (1 – 6 mg / d [Luippold 2012])
- Glipizid (2,5 – 15,0 mg / d [Schernthaner 2019])
(Kasper 2020)
Von der Bundesärztekammer (2021) werden SH in Kombination mit Metformin empfohlen, da dann
- das Risiko einer Hypoglykämie nur gering ist, sofern KEIN HbA1c < 7,5 angestrebt wird
- die Gewichtszunahme nur minimal ist
- SH eine Substanz darstellen, die einen gesicherten Nutzen an den Endpunktstudien hat
Eine Dreifachkombination sollte möglichst gemieden werden. Falls das nicht möglich ist, empfiehlt die Bundesärztekammer (2021):
- Sulfonylharnstoffe
- SGLT2- Inhibitoren wie z. B. Gliflozine
- GLP- 1- Rezeptor- Antagonisten wie z. B. Liraglutid
Unerwünschte Wirkungen:
Laut Bundesärztekammer (2021) haben SH das höchste Hypoglykämiepotential aller oralen Antidiabetika.
- Gewichtszunahme von ca.1,9 kg laut QUARTET- Studien
- die Gesamtmortalität steigt laut einer Metaanalyse von Schramm et al. (2011) bei SH verglichen mit anderen antihyperglykämisch wirksamen Medikamenten um 26 %. Eine Ausnahme bildete Gliclazid, wo die Hazard- Ratio (HR)0,65 betrug
- die kardiovaskuläre Mortalität stieg sogar um 46 % mit Ausnahme von Gliclazid, wo die HR ohne Infarkt- Anamnese 1,05 und mit Infarkt- Anamnese 0,87 l betrug (Schernthaner 2019)
- Magen- Darm- Beschwerden
- Alkoholintoleranz
- cholestatischer Ikterus (Boeckh 2002)
- selten vorkommende Blutbildveränderungen (Herold 2020)
Kontraindikationen:
- Patienten, die bereits schwere Hypoglykämien hatten
- fortgeschrittene Niereninsuffizienz
- manifeste kardiovaskuläre Erkrankung
- auf Insulin eingestellte Diabetiker
- Patienten mit Demenz (wegen der erhöhten Gefahr einer Hypoglykämie) (Schernthaner 2019)
- sehr alte Patienten mit reduzierter Nahrungsaufnahme (Gefahr der Hypoglykämie wie die Schloot Studie 2016 zeigte) (Bahrmann 2018)
- Typ 1 Diabetes
- diabetisches Koma bzw. Präkoma
- Leberinsuffizienz
- Narkosen
- Operationen
- Sulfonamidallergie
- Schilddrüsenerkrankungen
- Infektionen
- Schwangerschaft
- Stillzeit
- diabetisches Gangrän (Herold 2020)
- relative Kontraindikation bei Adipositas Grad I = BMI 30 – 40 kg / m² (Luippold 2012)
Wechselwirkungen:
Wechselwirkungen bestehen bei Medikamenten, die stark an Proteine gebunden sind, da diese die Wirkung der SH verstärken, indem sie SH aus der Plasmaproteinbindung verdrängen. Zu diesen Medikamenten gehören:
- Cumarine
- nichtsteroidale Antiphlogistika
- Sulfonamide (Luippold 2012)
Ein relativ hohes Hypoglykämierisiko besteht auch bei:
- ACE- Hemmern
- Acetylsalicylsäure
- Alkohol
- Betarezeptorenblockern
- Clarithromycin
- Cumarin- Derivaten
- Beta- Antagonisten:
Bei gleichzeitiger Gabe von Beta- Rezeptorantagonisten wird die glukosemobilisierende Wirkung von Adrenalin unterbunden und damit die Gefahr protrahierter Hypoglykämien (mit u. U. letalem Ausgang) erhöht (Luippold 2012).
Eine Abschwächung der SH- Wirkung kann durch folgende Medikamente auftreten:
- Diuretika
- Glukokortikoide
- Kontrazeptiva
- Schilddrüsenhormone
- Sympathomimetika (Luippold 2012)
- Diazoxid
- Gestagen
- Glukagon
- Nikotinsäurederivate
- Östrogen
- Phenothiazinderivate
- Saluretika
Die Gefahr schwerer Hypoglykämien unter Sulfonylharnstoffen ist besonders gegeben bei:
- körperlicher Anstrengung
- zerebrovaskulären Erkrankungen
- kardialen Erkrankungen
- Leberfunktionsstörungen
- Nierenfunktionsstörungen
- Diarrhoen
- Alter > 70 Jahre
- unregelmäßiger Nahrungsaufnahme
- Alkohol (Herold 2020)
LiteraturFür Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio
- Bahrmann A et al. (2018) S2k- Leitlinie Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter. 2. Auflage AWMF-Registernummer: 057-017
- Boeckh M et al. (2002) Original Prüfungsfragen mit Kommentar: GK2 Allgemeine Pharmakologie und Toxikologie. Georg- Thieme Verlag Stuttgart - New York 447
- Bundesärztekammer (2021) Nationale Versorgungsleitlinien: Typ- 2- Diabetes. AWMF- Register- Nr. nvl-001
- Diederich S et al. (2020) Referenz Endokrinologie und Diabetologie. Georg Thieme Verlag Stuttgart 491
- Frölich J C et al. (2000) Praktische Arzneitherapie. Springer Verlag 478
- Herold G et al. (2020) Innere Medizin. Herold Verlag 734 - 735
- Kasper D L et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 2413
- Mark M (2002) Sulfonylharnstoffe und Glinide: Vom Chemotherapeutikum zum Antidiabetikum.https://doi.org/10.1002/1615-1003(200205)31:3<252::AID-PAUZ252>3.0.CO;2-P
- Luippold G (2012) Fallbuch Pharmakologie: 100 Fälle. Georg Thieme Verlag Stuttgart
- Schernthaner G et al. (2019) Sulfonylharnstoffe: Stellenwert von Gliclazid in der modernen Therapie. Instrinsic Activity 7 (1) e2 doi:10.25006/IA.7.1-e2
- Schramm T K et al. (2011) Mortality and cardiovascular risk associated with different insulin secretagogues compared with metformin in type 2 diabetes, with or without a previous myocardial infarction: a nationwide study. Eur Heart J, 32 (15) 1900–1908
- Wehling M et al. (2006) Klinische Pharmakologie. Thieme Verlag 267 - 268