Neurosyphilis A52.1; A52.2; A52.3

Co-Autor: Dr. med. Florian Weid

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Zuletzt aktualisiert am: 20.08.2024

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Synonym(e)

Lues cerebrospinalis; Neurolues; Syphilis cerebrospinalis

Definition

Infektion des ZNS durch die Spirochäte Treponema pallidum. Die frühe syphilitische Infektion des ZNS kann entweder spontan abheilen (in der Mehrzahl der Fälle) oder als asymptomatische oder symptomatische syphilitische Meningitis in den ersten Wochen und Monaten nach der Infektion persistieren. Die zentralnervöse Tertiärsyphilis ist die wichtigste Form der Spätmanifestation der Syphilis. Sie ist deutlich häufiger als die kardiovaskuläre Form der Spätsyphilis (Landry T et al. 2019). Unbehandelt kann die zentralnervöse Infektion meist etwa 5-12Jahre nach dem Primärstadium zur meningovaskulären Syphilis (Endarteriitis obliterans die kleinen Gefäße der Meningen, des Gehirns und des Rückenmarks), bzw. nach 18-25 Jahren zur parenchymatösen Form der Neurosyphilis (Tabes dorsalis, Paralytische Neurosyphilis) fortschreiten. Bei etwa 30% der Syphilis-Infizierten verläuft die Neurosyphilis als Manifestation des Tertiärtstadiums asymptomatisch. Sie ist dann eine reine Liquor-serologische Diagnose. In wenigen Fällen können okuläre Symptome (syphilitische Uveitis: unspezifische anteriore Uveitis, akute syphilitische posteriore plakoide Chorioretinitis, Panuveitis, Hinweise auf eine Neurosyphilis sein (Gutierrez B et al. 2019). In anderen Fällen führt die vaskuläre Beteiligung zu einer ungewöhnlichen, im mittleren Alter der Patienten auftretende Apoplexsymptomatik.

Eine asymptomatische Neurosyphilis wird nicht selten auch bei HIV-Infizierten mit niedriger CD4-Zellzahl beobachtet (Hobbs E et al. 2018). Somit wird bei HIV-positiven Patienten mit einer positiven Syphilis-Serologie in den „European Guidelines of Syphilis“ eine Lumbalpunktion zur Abklärung empfohlen.

Einteilung

Die Neurosyphilis hat verschiedene Manifestationsformen:

  • Syphilitische Meningitis
  • Meningovaskuläre Syphilis (Befall der kleinen Gefäße der Meningen, des Gehirns und des Rückenmarks)
    • Selten: Isolierte syphilitische Meningomyelitis
    • Selten: Isolierte spinale vaskuläre Neurosyphilis
  • Asymptomatische Syphilis: eine asymptomatische Neurosyphilis wird definiert, wenn eine positive Syphilisserologie, eine lymphozytäre Pleozytose und Liquorproteinerhöhung und/oder ein positiver VDRL-Test im Liquor cerebrospinalis, aber keine klinischen Symptome vorliegen (AWMF-Leitlinien).
  • Parenchymatöse Neurosyphilis
  • Syphilitische Gummen

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Vorkommen/Epidemiologie

Zur tatsächlichen Inzidenz der Neurosyphilis gibt es keine aktuellen Daten.

Vor Einführung der Antibiotikatherapie war die Neurosyphilis (Tertiärsyphilis) eine häufige Komplikation der Syphilis. Etwa 25 bis 30% der Infizierten entwickelten eine Neurosyphilis. Von diesen Patienten hatten jeweils etwa 30% eine asymptomatische Neurosyphilis oder eine Tabes dorsalis; etwa 10% eine progressive Paralyse. In Entwicklungs- und Schwellenländern mit ungenügender Gesundheitsversorgung ist das neurosyphilitische Tertiärtadium jedoch noch anzutreffen (Elmouden H et al. 2019).

Klinisches Bild

Die klinischen Symptome des syphilitischen ZNS-Befalls variieren je nach Krankheitsstadium und Befallsmuster. Im Sekundärstadium sind Meningitis, Polyradikulitis und selten vaskuläre Hirnstammsyndrome möglich. Die syphilitische Meningitis ist durch Meningismus, Kopfschmerz und Hirnnervenläsionen (fakultativ N. VIII, VII und III) gekennzeichnet.

Meningovaskuläre Neurosyphilis: Bei der meningovaskuläre Neurosyphilis handelt es sich überwiegend um eine Endarteriitis obliterans die kleinen und mittleren Gefäße der Meningen, des Gehirns und des Rückenmarks. Weiterhin kann eine obliterierende Endarteriitis mit Befall der mittelgroßen Gefäße an der Hirnbasis (A. cerebri media und Äste der A. basilaris) vorliegen. Die meningovaskuläre Neurosyphilis tritt 5-12 Jahre nach dem Primärstadium auf. Da sie jeden Teil des Gehirns betreffen kann, ist die Symptomatik vielgestaltig. Eine Beteiligung zerebraler Gefäße führt zu arteriellen Verschlüssen und einer entsprechenden Ausfallssymptomatik (Shi M et al. 2019).

Hinweis: der angiitische Befall der A. cerebralis media kann zu ihrem Verschluss und zum apoplektischen Insult führen (ungewöhnliche Apoplexsymptomatik bei mittelalterlichen Patienten). Psychiatrische Veränderungen können einer Verschlusssymptomatik vorausgehen.

Parenchymatöse Neurosyphilis

Bei der parenchymatösen Neurosyphilis kommt es zu einem progressiven Abbau von Nervengewebe im Gehirn und/oder im Rückenmark. Die parenchymatöse Neurosyphilis tritt 18-25 Jahre nach dem Primärstadium als Progressive Paralyse oder Tabes dorsalis in Erscheinung.

Progressive Paralyse (Paralytische Neurosyphilis; Dementia paralytica; engl. general paresis): Die progressive Paralyse ist aufgrund der heutigen Diagnostik und Therapie der Syphilis selten geworden. Sie stellt eine chronisch-progrediente Enzephalitis dar und ist gekennzeichnet durch eine fortschreitende Demenz. Typisch sind psychotische Symptome wie Wahn (v.a. Größenwahn) und Persönlichkeitsstörungen. Weiterhin schwere Depressionen, Zungentremor, Sprechstörungen, Kopfschmerz und Schwindel, abnorme Pupillenreaktion (Argyll-Robertson-Zeichen mit reflektorischer Pupillenstarre und oft überschießender Konvergenzreaktion), „mimisches Beben", epileptische Anfälle, Reflexanomalien, Harn- und Stuhlinkontinenz, Marasmus.

Tabes dorsalis: Die Tabes dorsalis (tabes = Fäulnis, Verwesung) bezeichnet eine syphilitische Entmarkung der Rückenmarkshinterstränge und der Dorsalwurzeln mit einer chronischen Leptomeningitis. Unbehandelt trat die Tabes dorsalis bei etwa 30% aller Patienten mit Neurosyphilis auf. Heute ist diese fortgeschrittene Form einer parenchymatösen Syphilis in den Industrienationen selten, sollte jedoch in Entwicklungsländern differenzialdiagnostisch in Erwägung gezogen werden (Elmouden H et al. 2019). Die Symptome stellen sich 25-30 Jahre nach der Primärinfektion ein. Lanziernde Schmerzen der unteren Extremität und des Abdomens, Krämpfe, Ataxien, Parästhesien, Verlust der Tiefen–und Vibrationssensibilität, Verlust der Muskeleigenreflexe, Optikussschäden sind wesentliche Symptome dieser Erkrankung. Auf Grund der Sensibilitätsstörungen kommt es zu Fehlbelastungen von Gelenken und Plantarflächen mit konsekutiven Mutilationen (Charcot-Gelenke). Bei 60-70% der Infizierten ist das Argyll-Robertson-Phänomen (eine reflektorische Pupillenstarre) nachweisbar.

Syphilitische Gummen: Gummen als umschriebene, raumfordernde Granulome sind heute sehr selten. Sie entwickeln von den Meningen ausgehend an der Hirnkonvexität (Soares-Fernandes et al. 2007). Je nach Lokalisation sind sie klinisch stumm oder sie verursachen eine Herdsymptomatik. Ein polytopes Auftreten der Gummen wird als „gummöse Neurosyphilis“ bezeichnet.

Diagnose

Der Verdacht auf Neurosyphilis ergibt sich entweder aus anamnestischen Angaben über eine frühere syphilitische Geschlechtskrankheit oder aus einer reaktiven Treponemenserologie bei gleichzeitig bestehenden neurologischen und/oder psychiatrischen Symptomen. Hinweis: Klinisch ausschlaggebend ist zu wissen, dass ein negativer Treponemen-spezifischer Syphilis-Screening-Test (z.B. TPPA- oder FTA-abs-Test) im Serum eine Neurosyphilis definitiv ausschließt! Weiterhin ist es wichtig, dass alle Patienten bei denen serologisch eine aktive, spätmanifeste Syphilis diagnostiziert wurde, auf das Vorliegen einer Neurosyphilis untersucht werden müssen. Um diese abzuklären ist eine Lumbalpunktion (LP) indiziert.

Weiterhin ist die LP indiziert beifolgenden Konstellationen: VDRL-Titer>1:32 in der Spätlatenz, bei HIV-positiven Patienten in der Spätlatenz, bei serologisch positiven Patienten mit neurologischen oder psychiatrischen Symptomen unabhängig vom Stadium der Syphilis. Hinweis: bei HIV-Infizierten kann in seltenen Fällen sowohl der TPPA-, der FTA-Abs-, sowie auch der VDRL-Test falsch negativ sein, wodurch die Diagnose einer Neurosyphilis erschwert wird. Nicht indiziert ist eine Liquoruntersuchung bei der Frühsyphilis, es sei denn es liegen neurologische, okuläre oder psychiatrische Symptome vor.

Die nachfolgend aufgeführten diagnostischen Maßnahmen bzw. die Untersuchungsschritte sind für die Sicherung der Diagnose „Neurosyphilis „notwendig:

  • Bildgebendes Verfahren (cMRT)
  • Lumbalpunktion mit Bestimmung von Zellzahl, Gesamtprotein, Liquorlaktat
  • Liquorserologie: Synchrone Untersuchung von Liquor und Serum zur Errechnung der L/S-Quotienten für Albumin, IgG, IgA, IgM und eines Antikörperindexes für Treponemenantikörper (z. B. ITpA-Index). Ist die Diagnose eines stattgehabten syphilitischen ZNS-Befalls gesichert, so wird die klinische Aktivität des Prozesses überprüft.
  • VDRL-Test: Positivität im Liquor wird als diagnostisch beweisend für eine Neurosyphilis angesehen. Die Sensitivität des VDRL-Tests im Liquor liegt bei 70% bei einer hohen Spezifität von 99%.
  • Treponemen-spezifische Antikörpertests (TPPA; FTA-abs-Test): eine Liquorpositivität ist diagnostisch nicht beweisend. Liquornegativität spricht jedoch gegen das Vorliegen einer Neurosyphilis.
  • Liquorchemie: Eine Pleozytose (Zellzahl >5-10 Leukozyten / μl) sowie ein erhöhtes Liquor-Eiweiß (>0,4g/l) gelten als Marker für eine Entzündung des Liquorraumes.
  • ITpA-Index (iTpA=intrathekal produzierte T.-pallidum-Antikörper): Der iTpA-Index errechnet sich als Quotient aus T.-pallidum-spezifischem Antikörper-Titer im Serum und im Liquor. ITpA>2,0 - Neurosyphilis wahrscheinlich, ITpA>3,0 - Neurosyphilis beweisend.
  • Weitere Liquor-Indizes sind:
  • IgG-Index: IgG (Liquor)/IgG(Serum)x Albumin(Serum)/Album (Liquor): IgG-Index >0,7 =erhöht
  • IgM-Index: IgM(Liquor)/IgM(Serum)x Albumin(Serum)/Album (Liquor): IgM-Index >0,1 =erhöht
  • Folgende Zeichen Befunde sprechen für die Aktivität der Infektion:
  • Treponemen-spezifisches IgM im Serum nachweisbar (und in den letzten ca. 12 Monaten keine Therapie durchgeführt)
  • Mononukleäre Pleozytose im Liquor
  • Sehr hohe erregerunspezifische Antikörpertiter in Serum und Liquor, z. B. VDRL-Test (Veneral Disease Research Laboratory) im Liquor positiv
  • ITpA-Index>2,0 - Neurosyphilis wahrscheinlich, ITpA>3,0 - Neurosyphilis beweisend.
  • Progredienz der Neurosyphilis-typischen Symptome (Zunahme kognitiver Defizite, Zunahme der lanzinierenden Schmerzen oder der Hinterstrangataxie)

Differentialdiagnose

Die Differenzialdiagnose ist an die  verschiedenen Krankheitsstadien anzupassen:

  • Im Sekundärstadium sind „aseptische" Meningitiden anderer Ätiologie auszuschließen. Koinfektionen von Syphilis und HIV sind wegen überlappender Risikogruppen von zunehmender Bedeutung.
  • Bei Hirnnervenläsionen sind Herpesvirusinfektionen (Herpes simplex, Varicella zoster, Cytomegalie, Epstein Barr) auszuschließen (Diagnostik: Liquor-PCR, intrathekale Antikörpersynthese).
  • Bei der meningovaskuläre Neurosyphilis ist eine septisch-embolische Herdenzephalitis ausschließen!
  • Weiterhin eine Zoster-Vaskulitis, eine Borrelien-Vaskulitis, Vaskulitiden bei Mykoplasmen u.a., Vaskulitiden bei Autoimmunkrankheiten, eine tuberkulöse Meningitis.
  • Bei progressiver Paralyse: alle chronischen Enzephalitisverläufe einschließlich Multipler Sklerose sowie eine progressive multifokale Leukenzephalopathie, eine CMV-Enzephalitis sowie der Morbus Whipple)
  • Bei Tabes dorsalis: funikuläre Spinalerkrankung bei B12-Avitaminose, „Pseudotabes" diabetica, urämica, porphyrica und alcoholica (AWMF-Leitlinien 2010).

Therapie

Die Therapie der ersten Wahl bei Neurosyphilis ist Penicillin G in kristalloider Lösung, intravenös verabreicht mit 18– 24 Mio. IE/d (4 x 6 Mio., 5 x 5 Mio. oder 3 x 10 Mio. IE pro Tag, entsprechend  3–4 Mio. IE alle 4 Stunden) über 14 Tage (mindestens 10)(AWMF-Leitlinie 2020).

 

Beurteilung des Therapie-Erfolges durch:

  • klinisch (Besserung der Symptomatik falls vorhanden)
  • Rückgang der Liquorparameter (Pleozytose, Liquorprotein), Wiederholung ca. 6 Monate nach Therapie.

  • VDRL-Test (in Serum und Liquor) vierteljährlich, hier i.d.R. Abfall um 3 - 4 Titerstufen (bei erfolgreicher Therapie) innerhalb eines Jahres

(aus S1-Leitlinie - Neurosyphilis, 2020) 

Alternativ: 2g Ceftriaxon/Tag (Initialdosis 4 g) über 10–14 Tage

Alternativ: Doxycyclin 2 × 200mg für 28 Tage. Tetrazykline sind jedoch bei Schwangerschaft und Kindern bis zu 8 Jahren kontraindiziert.

Begleitende Therapie: Epileptische Anfälle werden entsprechend den Leitlinien für die antikonvulsive Therapie behandelt.

Lanzinierende Schmerzen (sie sind zumeist refraktär gegenüber üblichen Analgetika): Carbamazepin, Gabapentin, Pregabalin, Amitryptilin oder Flupirtin.

Hydrozephalus (sehr seltene Spätkomplikation): Shuntimplantation.

Psychotische Episoden und Verwirrtheitssyndrome: Anxiolytika und/oder Neuroleptika.

Zu beachten ist eine Jarisch-Herxheimer-Reaktion die allerdings bei der Neurosyphilis nur in 1-2% der Fälle auftritt. Die Jarisch-Herxheimer-Reaktion tritt 12–24 Stunden nach Beginn der antibiotischen Behandlung auf (Fieber, Kopf- oder Muskelschmerz, Abgeschlagenheit, Tachykardie, Leukozytose und relative Lymphopenie). Weiterhin können Krampfanfälle und/oder eine Verschlechterung der neurologischen Ausfälle auftreten.

S.a. S.11 der aktuellen Leitlinien der STI-Gesellschaft

Verlauf/Prognose

Im Tertiärstadium erreicht man auch durch hochdosierte Antibiotikagaben zumeist nur Defektheilungen, denn einerseits bildet sich der über längere Zeiträume entstandene Entzündungsprozess nur langsam zurück.

Verlauf: eine erfolgreiche Behandlung ist erkennbar an:

  • Rückgang der Liquorpleozytose (sofern vorhanden) innerhalb mehrerer Wochen Normalisierung der Blut-Liquor-Schranke innerhalb weniger Monate
  • rückläufiger IgM-Antikörperkinetik im Serum innerhalb von 6–12 Monaten (eine Befundnegativierung wird zumeist innerhalb von 18 Monaten beobachtet). Bei Reinfektion bzw. bei langem Zeitintervall zwischen Infektion und Therapiebeginn können treponemenspezifische IgM-Antikörper jedoch auch länger im Serum nachweisbar bleiben.
  • rückläufiger Lipoidantikörperkinetik (VDRL, Kardiolipin-KBR); innerhalb des ersten Jahres wird oftmals ein Titerabfall um 3–4 Verdünnungsstufen beobachtet. Bei Reinfektionen bzw. langem Zeitintervall zwischen Infektion und Therapiebeginn können Lipoidantikörper jedoch auch länger nachweisbar bleiben

Literatur
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