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ErythromelalgieI73.82
Synonym(e)
Erstbeschreiber
Graves 1834; Mitchell 1872; Gerhardt 1892
Definition
Seltene neuro-vaskuläre Hauterkrankung und funktionelle Durchblutungsstörung, charakterisiert durch brennende, schmerzhafte Sensationen im akralen Bereich der Hände und Füße (selten). Charakteristische, paroxysmale, schmerzhafte, anfallsartige Hyperämie der Akren nach Wärmeexposition.
Einteilung
Drei Formen der Erythromelalgie werden beschrieben:
- Primäre autosomal dominant vererbte Erythromelalgie (Erythrothermalgie) provoziert durch Wärme und Muskelarbeit (OMIM:133020).
- Sekundäre Erythromelalgie
- Sekundäre Erythromelalgie bei versch. hämatologischen Erkrankungen
- Sekundäre Erythromelalgie bei entzündlichen oder degenerativen Gefäßerkrankungen (z.B. arterielle Verschlusskrankheit, Thrombophlebititden)
Vorkommen/Epidemiologie
In Skandinavien wird ihre Inzidenz auf 0,3-0,4/100.000 Einwohner geschätzt.
Ätiopathogenese
Nachweislich ist bei der primären Erythromelalgie (Erythrothermalgie) eine autosomal dominant vererbte Mutation im natriumkanalkodierenden SCN9A-Gen (Sodium-channel, voltage-gated, type 9, alpha subunit) das auf Chromosom 2q24.3 lokalisiert ist (OMIM:133020).(Klein-Weigel PF et al. 2018). Dieser Gendefekt führt zu einer fehlerhaften Funktion des spannungsabhängigen Natriumkanals.
Nachgewiesen wurde bei einem Großteil der Patienten eine "small-fiber" Neuropathie mit pathologischem Sudomotor-Axon-Reflex. Einige (etwa 25%) weisen eine gestörte adrenerge Funktion, andere (ebenfalls etwa 25%) eine abnorme kardiovagale Funktion auf.
Bei sekundären Varianten meist idiopathische Genese, insbes. bei Polyzythämie, Leukämien (chronische myeloische Leukämie), Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie, Gicht, rheumatoider Arthritis, Lupus erythematodes, Mixed connective tissue disease, Sjögren-Syndrom, AIDS, viralen Infekten, Syphilis, Endangiitis obliterans, chronischer Perniosis, neurologischen Erkrankungen wie multiple Sklerose oder Neuropathien.
Bei Thrombozythämien konnten die Störungen der kutanen Mikrozirkulation durch Bildung von Thromben erklärt werden.
Assoziationen mit der Applikation von Medikamenten, z.B. Nifedipin, Bromocriptin, Norephedrin und Nicardipin sind kasuistisch beschrieben.
Weiterhin, in sehr seltenen Fällen sind Assoziationen mit Karzinomen von Lunge und Gastrointestinalsystem beschrieben worden.
In China konnten bei einer endemischen Form der Erythromelalgie, ein assoziiertes Virus, das Erythromelalgie-assoziierte Poxvirus (ERPV) isoliert werden.
Bemerkenswert sind Assoziationen mit COVID-19-Infektionen bzw. COVID-Vakzinierungen (Gambichler T et al. 2022).
Manifestation
Bei Frauen und Männern gleichermaßen; keine Geschlechtsbevorzugung. Manifestationsalter: 5.-6. Dekade; seltener bei Kindern um das 10. Lebensjahr (familiäre Form der Erythromelagie).
Lokalisation
Beine-Füße (90%), Hände (20-25%), Nase (sehr selten).
Klinisches Bild
Anfallsweise (in größeren Serien tritt die synkopale Erythromelalgie bei 95% der Patienten auf. Bei 3-5% verläuft sie permanent) auftretende, schmerzhafte, hyperämische, gerötete und geschwollene Haut mit gesteigerter Wärmeempfindlichkeit. Oft brennende Schmerzen. Während der Synkope steigt die Hauttemperatur um 7-8°C an, der Blutfluss ist um das 10fache gesteigert. Die Anfälle sind provozierbar durch Temperaturerhöhung der Extremität auf einen individuellen "kritischen thermischen Punkt" der zwischen 32°C und 37°C liegt, und durch körperliche Überlastung. Dauer der Anfälle: Minuten bis Stunden. Ein Großteil der Patienten zeigt eine lokalisierte oder generalisierte Anhidrose.
Klinischer Steckbrief:
- Anfallartige, gleichförmige Rötung und Schwellung der betroffenen Extremitäten
- Läsionale Hyperthermie
- Brennender Schmerz der Extremitäten
- Schmerz wird durch Wärme aggraviert
- Schmerz wird durch Abkühlung sofort gelindert (Bemerkung: viele Pat. versuchen, durch Dauerföhnen oder durch Eiswasserbäder den Schmerz zu lindern; dies gelingt, solange, wie der Kühleffekt andauert. Promptes Rezidiv nach Wiedererwärmung).
Labor
Thrombozytose (inkonstant)
Differentialdiagnose
Burning-feet-Syndrom; Raynaud-Syndrom; Morbus Fabry
Therapie
Interne Therapie
- Clomipramin (Anafranil) 100-200 mg/Tag kann versucht werden.
- Alternativ: Dauertherapie mit kleinen Dosen (100 mg/Tag) Acetylsalicylsäure oder mit Indometacin. Bei hohen Thrombozytenzahlen bzw. Thrombozytenfunktionsstörungen ASS hoch dosiert.
- Alternativ: Versuch mit hoch dosiertem Magnesium (z.B. Magnesium Verla) p.o.
- Experimentell: Prostaglandin-E1 (Alprostadil) z.B. Caverject i.v. sowie anschließend Nitroprussidnatrium (z.B. Nipruss).
Operative Therapie
Bei schweren therapieresistenten Fällen empfiehlt sich eine temporäre Grenzstrangblockade mit Lokalanästhesie. Bei Erfolg und dauerhaftem Durchbrechen der autonomen Dysregulation ist anschließend eine permanente Sympathikolyse (Grenzstrangblockade mit Alkohol) zu diskutieren.
Verlauf/Prognose
Häufig chronischer Verlauf. Individuell sehr variabel (Remissionen, Progression, Stable Disease möglich). Kinder gemäß Einzelfallberichten günstigere Prognose.
Hinweis(e)
- Diagnose anhand der Klinik.
- Typischerweise kühlen die Patienten im Anfall ihre Extremitäten in kaltem Wasser ab. Hierdurch schlagartige Symptomfreiheit. Erneutes Auftreten der Symptomatik bei Erwärmung. Ausschluss anderer funktioneller oder organischer Durchblutungsstörungen.
- Evtl. Kapillarmikroskopie. Suche nach Ursachen einer sekundären Erythromyalgie.
Hinweis(e)
Erythromelalgie wurde bei einem Olmsted-Syndrom beobachtet, einer Palmoplantarkeratose mit nachgewiesener Mutation im TRPV3-Gen (s.http://www.genecards.org/cgi-bin/carddisp.pl?gene=TRPV3). Das TRPV3-Gen (transient receptor potential cation channel, subfamily V, member 3) kodiert für ein Rezeptorprotein, das zu der Vanilloid-Rezeptorfamilie gehört. Vanilloid-Rezeptoren auf sensiblen Hautnerven sind Kationenkanäle, die Vanilloide binden und u.a. auch durch Capsaicin und Wärme aktiviert werden. Sie vermitteln brennende Schmerzen und Juckreiz.
Literatur
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