Primär- oder Sekundär? Eine kleine Effloreszenzenlehre
Sehr verehrte Kolleginnen, sehr verehrte Kollegen, mit einem Zitat von Goethe zu beginnen verpflichtet zweifelsohne. Es war dieser Satz, mit dem wir als Studenten in dem altehrwürdigen, heute nicht mehr existierenden, dermatologischen Hörsaal der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität begrüßt wurden.
Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket: Mit den Augen zu sehn, was vor den Augen dir lieget.
(JW Goethe Xenien aus dem Nachlaß 45W).
Dieser Satz nötigte uns Respekt ab. Ich wiederum fasse ihn als Anregung auf, diesen Newsletter zu schreiben, denn dieser Weimarer Aphorismus läßt sich mit ein bisschen Phantasie auf das Kernthema der Dermatologie übertragen, auf unser dermatologisches Vokabular, ohne dass es keine sinnvolle Kommunikation miteinander geben kann. Es ist wie in einem fremdem Land, dessen Sprache man nicht spricht. Man wird mit den Menschen und ihren Gepflogenheiten nicht heimisch. Heute geht es also um unsere Grundbegriffe, um die „Hautblüten“ oder Effloreszenzen. Das klingt nun wenig spektakulär, und doch verbirgt sich hinter diesem Thema eine latente Spannung und eine zarte Unzufriedenheit mit uns selbst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie interessiert sind.
Zurück zum Hörsaal, zu Ihrer ersten Dermatologievorlesung. Sie erinnern sich möglicherweise ungern, möglicherweise auch gar nicht mehr an diese Vorlesung „Dermatologie und Venerologie“. Vielleicht ist es auch schon zu lange her, oder Sie haben bei dieser „prima lezione“ bei einem duftenden Cappucino in der Mensa Ihres Campus gesessen. Das Thema der 1. Vorlesung lautete nämlich, da bin ich mir sehr sicher: Einführung und Effloreszenzenlehre. Meine Erinnerungen sind da sehr konkret, da ich 30 Jahre lang diese Einführungsvorlesung persönlich gehalten habe. Ich weiß also um die Besonderheit dieses Themas. Aber ist die schlechte Reputation der Effloreszenzen eigentlich gerechtfertigt, und warum widmen Universitätsprofessoren den Effloreszenzen, vulgo Hautblüten, unverdrosssen eine ganz Vorlesungsstunde?
Die Hautblüten
Bei der Nomenklatur der „Hautblüten“ haben unsere dermatologischen Vorväter im 17. und 18. Jahrhundert eine geistige Anleihe genommen und zwar an der von dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné geschaffenen Taxonomie.
Prominente Vertreter dieser „Anleihe“ waren Thomas Sydenham aus England, sein Londoner Landsmann Robert Willan und später die Vertreter der Pariser Schule um den Baron Jean Louis Alibert, der Wiener Schule um Ferdinand v. Hebra und dessen Schwiegersohn Moritz Kaposi alias Moriz Kohn. Alles berühmte Ärzte, deren Namen uns heute noch gegenwärtig sind. Frühzeitig setzte sich eine scheinbar naheliegende und einfache Unterteilung in Primäreffloreszenzen und Sekundäreffloreszenzen durch, die bis heute widerspruchslos fortgeschrieben wird. Diesen starren Dualismus möchte ich mit diesem Newsletter in Frage stellen.
Einfach ausgedrückt: hält eine Primäreffloreszenz eigentlich das was sie vorgibt zu versprechen, primär da zu sein, quasi die Knospe der späteren reifen Blüte zu sein, wie auf unserer Abbildung dargestellt. Bei den Pflanzen ist diese Abfolge klar vorgezeichnet. Aber wie verhält es sich bei den Hautblüten, was ist eigentlich primär und was sekundär?
Diesen starren Dualismus möchte ich mit diesem Newsletter in Frage stellen.
Primär- oder sekundär
Mit Blick auf unsere gängigen Lehrbücher finden wir die uns wohlbekannte Auflistung folgender Primäreffloreszenzen:
Fleck
Papel (Hauterhabenheit <1,0cm)
Knoten (>1,0cm)
Plaque (>1,0cm)
Bläschen und Blase (>1,0cm)
Pustel
Quaddel
Sekundäreffloreszenzen sind demnach Hauterscheinungen, die einer primären Effloreszenz nachfolgen wie:
Schuppung
Nässen
Schwellungen
Krustenbildungen
Atrophien
Narben
Erosionen
Geschwüre (Ulzera)
Rhagaden
Fissuren
ein poikilodermatischer Hautzustand
Nekrosen
Dualismus nicht sinnvoll: Ich halte diese Sichtweise für überholt. Jadassohn hat bereits 1930 darauf hingewiesen dass dieser Dualismus wenig Sinn macht. Siemens wiederholte dies 1952. Später schrieb der amerikanische Dermatologe Jackson zu diesem Sachverhalt: “Please note, that at no time do I use the terms primary or secondary with regard to descriptive morphological terms. What is seen is there”.
Mit anderen Worten „die Wahrheit liegt in bzw. auf der Haut“ also vor Ihren Augen, womit wir wieder bei Johann Wolfgang von Goethe wären. Das meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sind pragmatische Ansichten bei denen sich mein Herz erwärmt. Denn es ist aus meiner Sicht völlig belanglos, ob eine Effloreszenz primär oder sekundär entstanden ist: Es macht keinen Sinn darüber zu grübeln welche Primäreffloreszenz der sognannten Sekundäreffloreszenz „Ulkus“ vorausgegangen ist. War es ein Fleck oder eine Papel oder ein Knoten oder entstand das Ulkus ohne Vorläuferstadium. Ich halte diese Diskussion für wenig zielführend. Ein Ulkus ist ein Gewebedefekt und es bedarf der Kunst des Arztes bzw. seiner Expertise ein Ulkus auf Grund seiner Morphologie, seiner Lokalisation und seiner Anamnese ätiopathogenetisch zuzuordnen. Denn verehrte Kolleginnen und Kollegen, keine Diagnose ist so falsch und so teuer wie eine Fehldiagnose.
Ebenso führt uns nicht weiter, wenn wir hinterfragen ob eine Papel eine Primär-oder Sekundäreffloreszenz ist. Bewerten wir den banalen „Pickel“, also eine inflammatorische Papel auf der Nase eines 14-jährigen, pubertierenden Jünglings, als Primär-oder als Sekundäreffloreszenz? Ist die entstandene Blase an der Ferse eines Joggers tatsächlich eine Primäreffloreszenz oder ging ihr nicht doch ein Erythem voraus, das sie als Sekundäreffloreszenz charakterisieren würde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derartige Reflexionen sind wenig hilfreich. Sie sind für die Diagnosestellung unerheblich. Für die Diagnostik entscheidend ist das Erfassen des Leitsymptoms, das sich wie ein Puzzle aus vielerlei Bausteinen zusammensetzt.
Erlauben Sie mir dies an einem Beispiel zu zeigen:
Patient 72 Jahre alt, hellhäutig und lichtgealtert, solitäre, solide, hautfarbene Erhabenheit, seit Monaten existierend, langsam wachsend, Lokalisation: Nasenflügel, 0,5cm groß, breitbasig aufsitzend, fest, symptomlos, oberflächenglatt, randständige Gefäßektasien. Auf Grund dieser knappen, aber wesentlichen Beschreibung von Anamnese und Befund können wir der Papel ein klinisches Bild zuordnen.
Wir haben mit diesen Charakteristika die Leitsymptomatik herausgearbeitet die aus einigen gut beobachteten morphologischen und palpatorischen sowie wenigen anamnestischen Parametern zusammengesetzt ist. Dazu haben wir 4 Zeilen benötigt und etwa 5 Minuten gedankliche Arbeit. Diagnostisch gilt diese Befundung, auf Grund unserer Erfahrungswerte, sehr sicher einem Basalzellkarzinom.
Das Kernstück unserer dermatologischen Diagnostik ist demnach eine sehr präzise Befundung. Nur wer in der Lage ist eine Hauterkrankung klar zu beschreiben, wird ihr ätiopathologisches Konzept verstehen. Hierzu können folgende 5 einfache Begrifflichkeiten genutzt werden. Sie basieren auf dem Altbekannten und sind für jedermann verständlich.
1.
Flecken der Haut sind Farbveränderungen ohne Konsistenzvermehrung (Hinweis: Flecken >1,0cm können als Patches bezeichnet werden)
2.
Erhöhungen der Haut
2.1.
Solide Erhöhungen der Haut sind:
Papel=<1,0cm/Plaque=>1,0cm (umschriebene, persistierende plattenartige Hauterhöhung)
Knoten (eine halbkugelige, nicht plattenartige, in Haut und/oder Subkutis liegende, langzeitig persistierende Erhöhung > 1,0 cm)
Quaddel (eine halbkugelige oder plattenartige, flüchtige (<12h) Erhöhung)
Schwellung (diffuse, großflächige meist weiche, nicht flüchtige (>24h) Erhöhung von Haut und Subkutis durch eine tiefliegende Flüssigkeitsansammlung)
2.2.
Nicht-solide Erhöhungen (mit Flüssigkeit gefüllt):
Bläschen =<1,0/Blase >1,0cm (mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum in /unter der Epidermis)
Eiterbläschen=<1,0 /Eiterblase >1,0cm (mit Eiter gefüllte Hohlraum in/unter der Epidermis = Pustel)
3.
Vertiefungen: Gewebedefizite mit intakter Haut bzw. defekter Haut: Narbe, Atrophie, Erosion, Ulkus u.a.
4.
Verhärtungen (Indurationen): Lediglich palpatorisch zu erfassende, das Hautniveau nicht vorwölbende, oberflächliche oder tiefe, flächig scheibenförmige bzw. abgerundete, auch diffuse Gewebevermehrungen mit unterschiedlichen Konsistenzen (gummiartig fest, steinhart u.a.). Bemerkung: Eine in nur der Tiefe gelegene abgegrenzte, rundliche Verhärtung wird allgemeinpathologisch ebenfalls als Knoten bezeichnet, selbst wenn die Hautoberfläche nicht vorgewölbt ist (z.B. Lymphknoten/metastatischer Knoten).
5.
Auflagerungen: Durch die Haut ausgeschiedene und auf der Haut aufgelagerte Absonderungen wie: Schuppungen, Krusten, Flüssigkeiten (Nässen).
Einige Effloreszenzen werden an Hand ihrer Größe unterschieden so Knötchen, Plaque und Knoten: Eine Plaque, also „Platte“ ist häufig nicht dicker als eine Papel, sondern nur flächenmäßig größer (>1,0cm). Sie entsteht entweder aus zusammengerückten und zu einem (plattenartigen) Plateau verschmolzenen Papeln oder aus einer zentrifugal wachsenden Papel.
Andere Effloreszenzen unterscheiden sich durch ihre Dynamik. Eine Quaddel, also ein Ödem der Haut, ob klein oder groß existiert als Einzeleffloreszenz nur etwa 8 bis maximal 12 Stunden. Durch eine simple Markierung der Effloreszenz gelingt die Unterscheidung sehr präzise. Die Quaddel ist, ungeachtet ihrer Größe, auf jeden Fall nach 12 Stunden verschwunden.
Bei der Schwellung, liegt eine dynamische, kissenartige, weiche Hautvorwölbung vor. Sie ist ein klinisch simpel zu erfassendes, ätiologisch allerdings nicht immer einfach zu bewertendes, polyätiologisches Phänomen. Das Angioödem ist der Prototyp einer Schwellung. Auch stumpfe Traumata der Haut verursachen lokalisierte Schwellungen.
Eine Vertiefung der Oberfläche kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Sie kann durch eine chronisch schleichende Gewebeatrophie (Haut, Subkutis oder tiefer liegende Strukturen) ohne sichtbaren Defekt der Oberfläche bedingt sein, oder durch einen offenen, unterschiedlich tiefen Gewebedefekt (Erosion, Ulkus etc.).
Einige Effloreszenzen werden an Hand ihrer Größe unterschieden so Knötchen, Plaque und Knoten: Eine Plaque, also „Platte“ ist häufig nicht dicker als eine Papel, sondern nur flächenmäßig größer (>1,0cm). Sie entsteht entweder aus zusammengerückten und zu einem (plattenartigen) Plateau verschmolzenen Papeln oder aus einer zentrifugal wachsenden Papel.
Andere Effloreszenzen unterscheiden sich durch ihre Dynamik. Eine Quaddel, also ein Ödem der Haut, ob klein oder groß existiert als Einzeleffloreszenz nur etwa 8 bis maximal 12 Stunden. Durch eine simple Markierung der Effloreszenz gelingt die Unterscheidung sehr präzise. Die Quaddel ist, ungeachtet ihrer Größe, auf jeden Fall nach 12 Stunden verschwunden.
Bei der Schwellung, liegt eine dynamische, kissenartige, weiche Hautvorwölbung vor. Sie ist ein klinisch simpel zu erfassendes, ätiologisch allerdings nicht immer einfach zu bewertendes, polyätiologisches Phänomen. Das Angioödem ist der Prototyp einer Schwellung. Auch stumpfe Traumata der Haut verursachen lokalisierte Schwellungen.
Eine Vertiefung der Oberfläche kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Sie kann durch eine chronisch schleichende Gewebeatrophie (Haut, Subkutis oder tiefer liegende Strukturen) ohne sichtbaren Defekt der Oberfläche bedingt sein, oder durch einen offenen, unterschiedlich tiefen Gewebedefekt (Erosion, Ulkus etc.).
Zum Schluss noch einige Unschärfen in unserer Nomenklatur, die für einen Nicht-Dermatologen schwer verdaulich Kost darstellen:
Der rote, nicht-anämisierbare Fleck wird als Effloreszenz vielfach gleichgesetzt mit dem Begriff Purpura. Der Begriff Purpura ist zwar jedem Arzt geläufig, nur wird er ganz unterschiedlich interpretiert. Mit Purpura meint man einerseits ein Exanthem aus hämorrhagischen Flecken. Anderseits umfasst die Bezeichnung Purpura einen ätiopathogenetischen Prozess der Haut, der mit einer dermalen Einblutung einhergeht. Zu guter Letzt und damit verwirrend genug, bezeichnet „Purpura“ auch eine Diagnose z.B. die „Purpura Schönlein Henoch“. Inzwischen hat sich aus dem anglo-amerikanischen Sprachgebrauch mit der „palpablen Purpura“ eine weitere Begrifflichkeit eingebürgert. Damit wird, irritierend genug, eine Vaskulitis der Haut bezeichnet. Es gibt noch viele weitere Beispiele für derartige Verwirrnisse auf deren Aufzählung ich hier verzichten möchte.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich wünschte mir, dass Sie über dieses klar konzipierte Effloreszenzentableau nachdenken. Wir werfen damit nomenklaturischen Ballast ab, kümmern uns weniger um primär oder sekundär und favorisieren eine klare für alle, auch nicht-dermatologische Kollegen, verständliche Sprache. Dies dürfte ein Weg sein, um unsere Befundungen und schliesslich Diagnosen für alle transparenter zu gestalten. Denn nichts ist für ein Fach schädlicher als eine eigenbrötlerische Denk- und Handlungsweise, die andere durch begriffliche Kuriositäten ausschließt. Mit diesem Wunsch und einem verweilenden Blick auf die erblühte Rose und ihre knospende „Primäreffloreszenz“, wünsche ich Ihnen einen guten Tag wo immer sie ihn auch verbringen mögen.
Herzlichst, Ihr
Peter Altmeyer
Literatur:
Altmeyer P (2007) Dermatogische Differenzialdiagnose. Der Weg zur klinischen Diagnose. Springer Medizin Verlag, Heidelberg
Nast A, Griffiths CE, Hay R, Sterry W, Bolognia JL. The 2016 International League of Dermatological Societies' revised glossary for the description of cutaneous lesions. Br J Dermatol. 174:1351-1358.
Ochsendorf F et al. (2017) Untersuchungsgang und Effloreszenzenlehre. Hautarzt 68: 229-242