03.04.2023

Es steht nicht gut um den Morbus Kyrle

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
bei meiner lexikalischen Arbeit für die „Altmeyers Enzyklopädie Medizin“, die ja vor allem die Aufarbeitung und Aktualisierung von Krankheitsbildern zum Ziel hat, habe ich schon so manchen Schweißtropfen vergossen, so manchen Strauß ausgefochten, so manchen Rückzieher gemacht, wenn es um klare Definitionen und eindeutige Zu- bzw. Einordnungen von dermatologischen Krankheitsbildern und Begrifflichkeiten geht. Im Gestrüpp der ausufernden dermatologischen Nomenklatura kann man sich schon mal leicht verfangen, das wissen wir alle sehr genau.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
bei meiner lexikalischen Arbeit für die „Altmeyers Enzyklopädie Medizin“, die ja vor allem die Aufarbeitung und Aktualisierung von Krankheitsbildern zum Ziel hat, habe ich schon so manchen Schweißtropfen vergossen, so manchen Strauß ausgefochten, so manchen Rückzieher gemacht, wenn es um klare Definitionen und eindeutige Zu- bzw. Einordnungen von dermatologischen Krankheitsbildern und Begrifflichkeiten geht. Im Gestrüpp der ausufernden dermatologischen Nomenklatura kann man sich schon mal leicht verfangen, das wissen wir alle sehr genau.
Medizinische Doubletten werden nicht selten, meist unbewusst, unter verschiedenen Namen publiziert. Geisterhafte literarische Chimären schleppen sich durch das Alphabet und warten wie Zecken unverdrossen auf ihren Einsatz. Scheinbare Entitäten, häufig jedoch nur Varianten bereits bekannter Krankheitsbilder, feiern, manchmal aus unerfindlichen ad-hoc-Launen heraus, fröhliche Urstände. Erst bei systematischer Durchforstung der Literaturverzeichnisse wird dann deutlich, dass den publizistischen Eskapaden und Irrtümern in der Vergangenheit reichlich Platz geboten wurde, wodurch zu Lasten des Faches unnötiger, enzyklopädischer Ballast produziert und angehäuft wird.
Nun mag man einwenden, dass Wissenschaft nichts anderes ist als ein Aneinanderreihen von größeren und kleineren Irrtümern, die die dermatologische Kommune einfach auszuhalten hat. Auch der heutige Wissensstand wäre dann nur der aktuelle Stand eines Irrtums. Dies ist eine tiefgründige Erkenntnis, die uns auch im tagtäglichen Leben begegnet.
So mancher dermatologischer Irrtum lässt sich durch die lange Tradition unseres Faches begründen, denn die meisten dermatologischen Erkrankungen erblickten bereits vor mehr als 100 Jahren das publizistische Licht der Welt. Auf ihren verschlungenen Pfaden durch die Jahrzehnte waren Wandlungen der Krankheitsbilder, Variationen, Neuinterpretationen, Untergliederungen und Neuordnungen gang und gäbe, z.T. auch unvermeidlich. Jedoch wurde durch die anhaltenden wissenschaftlichen Diskussionen das Profil vieler Erkrankungen zunehmend geschärft, was uns Schritt für Schritt zu ihrem wahren Kern führte.

Prof. Josef Kyrle/Wien

Meine heutigen Ausführungen haben inhaltlich die Hyperkeratosis follicularis et parafollicularis in cutem penetrans im Visier, die wir auch unter dem Eponym „Morbus Kyrle“ kennen. Ich gestehe gerne, dass ich dieses nomenklatorische „Sprachungetüm“ nicht sonderlich schätze. Eigentlich empfinde ich das Vorhandensein dieser Sprachschlange als eine dringende Aufforderung, sie zügig zu eliminieren. Einem Nicht-Dermatologen würde ich diese Endlosdiagnose auch nach mehreren Gläsern Marco Felluga Sauvignon blanc aus dem östlichen Friaul nicht zumuten. Bevor wir jedoch über dieses seltsame Krankheitsbild zu Gericht sitzen, sind genaue Literaturrecherchen, allein aus Gründen der Kollegialität und Achtung, unerlässlich.
Zunächst die Frage, wer steckt eigentlich hinter dem Eponym Morbus Kyrle? Zweifelsohne ein kluger und kreativer Kopf. Josef Kyrle wurde am 8. Dezember 1880 in die späte Blüte der „K und K Monarchie“ im südlich von Passau gelegenen, oberösterreichischen Schärding hineingeboren. Er gehörte in der Nachfolge der Hebra/Kaposi-Dynastie, zu den prägenden dermatologischen Persönlichkeiten der Wiener Dermatologenschmiede des frühen 20.Jahrhunderts. So erhielt Kyrle auch internationale Berufungen an die Universitäten Freiburg (Breisgau) und Basel, die er als eingefleischter Wiener jedoch ausschlug. Während des Ersten Weltkrieges beschäftigte er sich mit Variola und Fleckfieber und begann 1917 mit wissenschaftlichen Untersuchungen zur Therapie der Syphilis. Zusammen mit dem berühmten Wiener Neurologen Julius von Wagner-Jauregg erkannte er die Bedeutung des Fiebers für die Syphilistherapie. Aus dieser Freundschaft und engen Zusammenarbeit ging auch der Therapieansatz der Neurosyphilis mit Malariaerregern hervor. 1927 erhielt von Wagner-Jauregg hierfür den Nobelpreis. Da war Kyrle bereits 1 Jahr zuvor, 46-jährig in der Blüte seines Lebens, verstorben. Er ist auf dem Döblinger Friedhof (Gruppe 8, Nummer 2) bestattet. 1932 erinnerte sich die Stadt Wien erneut an den Dermatologie-Professor. Die 13. Josef-Kyrle-Gasse in Wien-Hietzing wurde nach ihm benannt. Sie verbindet im Wiener Medizinviertel die Biraghigasse und die Wolkersbergenstraße.

 
All diese damaligen medizinischen Errungenschaften und Erkenntnisse über die Syphilis sind inzwischen vergessen. Das Penizillin beendete schlagartig das Interesse der meisten dermatologischen Forscher, sich mit der Spirochäta pallida und ihren 450 Jahre andauernden, fatalen Auswirkungen auf die Bevölkerung der „Alten Welt“ zu beschäftigen. Und so blieb vom allseits geschätzten Professor Josef Kyrle nur ein 1916 publiziertes, inflammatorisches keratotisches Krankheitsbild in unserer Erinnerung, das er rein deskriptiv und hyperpenibel als  „Hyperkeratosis follicularis et parafollicularis in cutem penetrans“ bezeichnete. Beschrieb Josef Kyrle eine Genodermatose, eine Stoffwechsel-induzierte „réaction cutanée“, eine bis dato unbekannte Autoimmundermatose? Wir wissen es im Nachhinein nicht so genau.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
das Staunen ist eine Sehnsucht nach Wissen, sagte Thomas von Aquin. Dieser Satz verlangt seinem Kern nach das immerwährende Fragen nach dem Warum, und heruntergebrochen auf das Thema dieses Newsletters, warum schafft es der Morbus Kyrle 100 Jahre lang nicht, in den TOP 100-Publikationscharts aufzutauchen, und warum ist es eigentlich bis heute nicht gelungen, diesem Krankheitsbild ein eigenes, scharf umrissenes Profil zu geben. Anderen mit Hautperforationen einhergehenden Dermatosen wie der 1963 von den französischen Dermatologen Paul Laugier und Frédéric Woringer aus der Taufe gehobenen „reaktiven perforierenden Kollagenose“  gelang dies spielend. Auch die Existenz einer anderen „perforierenden“ Dermatose, der sehr seltenen, 10 Jahre zuvor von dem Schweizer Dermatologen Wilhelm Lutz beschriebenen Elastosis perforans serpiginosa, wird kein ernstzunehmender dermatologischer Wissenschaftler jemals anzweifeln.
Obwohl die Existenz des Morbus Kyrle überaus fraglich ist, taucht der Name immer wieder, fast schon penetrant, in den Literaturverzeichnissen der gängigen dermatologischen Lehrbücher auf. Ich behaupte einmal: Dieses Beharrungsvermögen beruht auf einer nicht-reflektierten Bequemlichkeit, nach dem Motto „was einmal in die Bücher geschrieben wurde, hat anscheinend eine permanente Daseinsberechtigung“.
Mein hauptsächlicher Kritikpunkt an dem von Kyrle beschriebenen Krankheitsbild ist, dass der dermatohistopathologische Pionier Kyrle eine histo-pathologische Momentaufnahme einer Verhornungsstörung festgehalten hat. Er räumte dabei dem „in cutem penetrans“, also dem Eindringen von Hornmaterialien in die Epithelschicht der Epidermis, ein herausgehoben wichtiges ätiologisches Prinzip ein. Die histologischen Abbildungen aus seiner Orginalarbeit (s.unten) belegen diese Interpretation.

Hyperkeratosis follicularis et parafollicularis in cutem penetrans. Frühe „spikeartige“ Verhornungsstörung. Ausschnitt aus einer Abbildung der Originalpublikation von Josef Kyrle des Jahres 1916

Hyperkeratosis follicularis et parafollicularis in cutem penetrans. Fortgeschrittenes Stadium mit dem Vordringen eines (nicht-follikulären) parakeratotischen Hornkegels in das Epithelband. Ausschnitt aus der Orginalpublikation von Josef Kyrle aus dem Jahre 1916.

Was Kyrle durch seine primär dermato-histologische Interpretation der Erkrankung versäumte, war eine subtile und reflektierende Analyse des klinischen Befundes, die später einen klinischen Vergleich erlaubt hätten. Josef Kyrle beschrieb auch keine chronische Verhornungsstörung, sondern ein „außerordentlich imponierendes, über die ganze Haut verbreitetes Exanthem, das bei einer 22jährigen, kräftigen Frau aus voller Gesundheit, die auch später nicht beeinträchtigt war,“ aufgetreten war. Bei der Einzeleffloreszenz wird ein rasches Wachstum des zunächst oberflächlichen Epithelknötchens beschrieben. So auch die Konfluenz mehrerer Läsionen; weiterhin auch polyzyklische Figuren. Das Ablösen der Hornmassen hinterließ Substanzverluste mit nässender, auch blutender Basis. Die Ausheilung erfolgte unter Vernarbungen. Auch zur Verteilung des „Exanthems“ äußerst sich Kyrle .Frei waren der behaarte Kopf, Hände und Füße sowie die Schleimhäute“. Man muss leider konstatieren, dass Josef Kyrle bei der so eminent wichtigen klinischen Beschreibung eines scheinbar neuen Krankheitsbildes schwammig und ungenau blieb, im Ungefähren.
Hat er uns somit nur ein histologisches „Ei“ ins dermatologische Nest gelegt, das selbst bei intensivster Bebrütung nicht zum Leben erwacht? Bei weniger als 100 seit der Erstpublikation veröffentlichten Publikationen zu diesem Thema ist auffällig, dass ein gemeinsamer klinischer Faden völlig fehlt. Nach etwas mehr als 100 Jahren sollte man erwarten, dass sich ein profiliertes klinisches Bild der Hyperkeratosis follicularis et parafollicularis in cutem penetrans herauskristallisiert hätte. Dem ist nicht so. In den letzten Jahren wurden einige als M. Kyrle deklarierte Kasuistiken im Zusammenhang mit Diabetes mellitus und chronisch terminaler Niereninsuffizienz beschrieben. Auch über andere Stoffwechselerkrankungen (Hyperthyreose, Leberzirrhose) wurde berichtet, ebenso über Köbnerschen Isomorphien (die Kyrle nicht beschrieb). Damit rücken die wenigen neueren Kyrle-Kasuistiken das Krankheitsbild als eine „réaction cutanée“ in die Nähe der wohlbekannten und klar umrissenen „reaktiven perforierenden Kollagenosen“. Womöglich liegt Identität vor.
Ich bleibe dabei: An  der Diagnose M. Kyrle klebt der Makel der mangelhaften klinischen Authentizität. Die Diagnose beruht ausschließlich auf einem (nicht-krankheitsspezifischen) histologischen Phänomen, das als follikuläre und parafollikuläre in die Dermis penetrierende Hyperkeratose interpretiert wurde, ein Befund, der im Übrigen sich nur in sorgfältigen Schnittserien erschließt. Ich ergänze aus meiner Sicht: Follikelperforationen sind absolut keine dermatologischen Seltenheiten. Sie können bei allen Formen der, jedem Dermatologen geläufigen, Keratosis pilaris simplex nachgewiesen werden, soweit man sich in seriellen Stufenschnitten um diesen Nachweis bemüht.

Keratosis pilaris. Inlet histologischer Schnitt einer Follikelkeratose. Seitlicher Schwund des Follikelepithels. Abb. entnommen aus Oscar-Gans -Histologie der Hautkrankheiten (Springer1920)

Ich möchte im Übrigen darauf hinweisen, dass, von der Tumorpathologie einmal abgesehen, die wenigsten inflammatorischen histologischen Phänomene diagnostisch sind. Meist unterstützen und bestätigen sie nur zusammen mit dem klinischen Bild die Diagnose. Denken Sie an die Psoriasis mit Akanthose, Parakeratose und Munro-Abszessen; die histologische Diagnose lautet somit auch korrekterweise: „mit dem klinischen Bild der Psoriasis vereinbar“. Denken Sie an das Phänomen der „lichenoiden oder der spongiotischen Dermatitis“. Auch diese histologischen Phänomene bekräftigen das jeweilige, vorgegebene klinische Bild. Auch eine Akantholyse macht bekanntermaßen noch keinen Pemphigus aus. Es steht also nicht gut um die Entität des Morbus Kyrle.
Ich erlaube mir diesem Krankheitsbild, obwohl ich dem superben Wiener Wissenschaftler Josef Kyrle meine tiefe Referenz erweisen möchte, einen Platz auf den hintersten Rängen des „teatro dermatologico“ zuzuordnen. 100 Jahre sollten ausreichend sein, um einem klinischen Krankheitsbild eine nachdrücklichen Stempel zu verpassen, eine unverwechselbaren Entität. Dies ist bisher für den M. Kyrle trotz aller Anstrengungen nicht gelungen.
Die Hyperkeratosis follicularis et parafollicularis in cutem penetrans ist somit nicht das Zebra vor der Tür, sondern so, wie es aussieht, eine dermatologische Chimäre. Sie kann aus meiner Sicht, ohne größere Larmoyanz, auch ohne schlechtes Gewissen ersatzlos aus den Inhaltsverzeichnissen aktueller Lehrbücher gestrichen werden.

 Meine Damen und Herren,
in Oberitalien herrschte Anfang März 2023 kein schlechtes Wetter (!!), das mich an den Schreibtisch verbannt hätte, um mich an der Hyperkeratosis follicularis et parafollicularis in cutem penetrans zu vergreifen. Ganz im Gegenteil. Wenn ich die derzeitigen Wetterverhältnisse nördlich der Alpen verfolge, dann herrschen dazu im Vergleich zum Norden Europas im Friaulischen mit 15-20 Grad schon frühlingshafte Zustände. Die Magnolien haben ihre Blütenpracht bereits abgelegt. Es mangelt auch nicht an Alternativen zur Schreibtischarbeit, denn im Garten ist das Kürzen der Obstbäume angesagt, der Rasen wartet auf seinen ersten Schnitt, und der Umbau für unsere ukrainische Familie, die aus dem zerbombten Mariupol flüchten musste, geht auf seine Vollendung zu. Als mir dann noch unlängst das Buch in die Finger fiel, die „wahren Schätze in Friaul Venezia Giulia“, wurde mir klar, dass sich zeitweise auch das Schreiben gedulden muss.
Diese Region ist so überreich bedacht mit zahlreichen von der UNESCO zum Weltkulturerbe deklarierten Preziosen. Die müssen einfach erobert werden. Das an die Dolomiten angelehnte Udine, das Herz des Friauls mit seinem wunderbaren Schloss, Gorizia die Signora der Collio-Weinregion, 1918, wie heute Bachmnut in der Ukraine,  kriegsumtoste Grenzstadt zu Slowenien, umringt vom Karst und unzähligen Weingütern, die so viel zu erzählen haben, Duino-Aurisina mit dem Schloss der Thurn und Taxis -Fürsten, die das Postwesen bis in die Neuzeit beherrschten, Aquileia mit seinem römischen Erbe, Grado und Lignano-Sabbiadoro mit ihren endlosen Sandstränden, und letztlich Triest, “ die am Meer gelegen Schönheit, mit ihrer Habsburger Vergangenheit und ihren Palazzi, das Schloss Miramar lässt grüßen. Voilà, es gibt Vieles zu sehen, was von der Schreibtischarbeit fernhält.
Zum Schluss noch eine kurze Episode vom gestrigen Tag. Auf der Landstraße von Cervignano nach Dunio-Aurisina hat mich die Neugierde in die unweit von Udine gelegene Kleinstadt Mortegliano getrieben, 4.800 Einwohner groß, hübsch und sauber und im Ortskern von einer Kathedrale beherrscht, vom geschätzten Ausmaß eines Münsteraner Domes.
 

Die Kathedrale von Mortegliano nebst Campanile

Aber der wahre Grund, diese Kirche zu besuchen, war der 1526 fertiggestellte, 5m hohe Altar mit seinen 60 vergoldeten, edel geschnitzten Holzstatuen, einer der wichtigsten Preziosen des Rinascimento, der damals 1.180 Dukaten kostete, eine offenbar immense Summe, die die Gemeinde über 30 Jahre lang abstotterten musste. Ob sie dies ohne Zwang der Venezianer tat, die jahrhundertelang dieses Gegen beherrschten, ist mir nicht bekannt.

Der 1592 entstandene Altar in der Kathedrale von Mortegliano, eine der bedeutendndsten Holzpreziosen des Rinascimento.

Wie immer verbleibe ich mit den besten kollegialen Grüßen aus Dunio-Aurisina und der Aufforderung an alle, diese zwischen Adria und Dolomiten gelegene Region mit viel Herz und wachem Geschichtsbewusstsein persönlich zu erobern, es lohnt sich!
Ihr
P. Altmeyer
 

Lit.
Ataseven A et al. (2014) Kyrle's disease. BMJ Case Rep 2014:bcr2013009905.
Weitere Literatur s. in Altmeyers Enyzklopädie Medizin

Frau Dr. Katja König bin ich für sorgfältige Korrekturen an diesem Manuskript dankbar.

Zurück zur Übersicht