06.12.2022

Dermatologie in Zeiten des Umbruchs

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Die „echte“ Dermatologie ist nur für „Berufene“ gemacht. Nicht-Berufenen bleibt sie wie für Beethoven die "so ferne Geliebte“ fremd, irrgendwie nicht erreichbar. Ich hatte mich frühzeitig für dieses Fach entschieden und fühle auch heute noch, nach lang geleisteter Arbeit, eine wirkliche Befriedigung über diese Wahl. Warum ich mich so entschieden hatte?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Die „echte“ Dermatologie ist nur für „Berufene“ gemacht. Nicht-Berufenen bleibt sie wie für Beethoven die "so ferne Geliebte“ fremd, irrgendwie nicht erreichbar. Ich hatte mich frühzeitig für dieses Fach entschieden und fühle auch heute noch, nach lang geleisteter Arbeit, eine wirkliche Befriedigung über diese Wahl.
Warum ich mich so entschieden hatte? Ich weiß es tatsächlich nicht mehr so recht. War es Zufall? Möglich! Dazu fällt mir der Satz von Louis Pasteur ein: „Der Zufall bedenkt nur den vorbereiteten Geist“. Ich denke, ich war innerlich auf diese Entscheidung zu diesem Fach vorbereitet, zumal mein Vater ebenfalls Dermatologe war.
Wir staunen immer noch über die naive Schönheit der kindlichen Haut, den zarten Teint der „bella Donna“ im besten Alter und zeugen der alternden Haut ihren wohlverdienten Respekt.
Wir staunen über eine Jahrmillionen dauernde Entwicklung dieser faszinierenden Biomembran. Sie erfolgte in phylogenetischen Stufen bis zu einem nahezu vollkommenen System der immunologischen Abwehr sowie der neuronalen und emotionalen Perzeption.

Die perfekte Haut eines 5-Jährigen

Wir bewundern die Haut als Schutzorgan gegen Regen und Schnee, gegen schneidende Kälte und tropische Wärme, gegen Toxine unterschiedlichster Provenienz, gegen ultraviolette Strahlen, Verwundungen aller Art, gegen parasitische Erreger wie auch heimtückische Insektenbisse und erfinden Vielerlei, um das bewundernswerte Werk unserer Gene bis ins hohe Alter in seinen Funktionen und seiner Schönheit zu erhalten.
Bei der evolutionären Entwicklung zu diesem fein abgestimmten Organ durchlief die Haut unendlich viele, kleinere und größere Schrittfolgen. Ihre synthetische Evolution, basierend auf dem „trial and error „-Prinzip, führte naturgemäß auch zu zahlreichen, biologischen Irrtümern mit sehr unterschiedlichen Resultaten. Charles Darwin lässt grüßen!

 

An der Haut lassen sich solche evolutionären Irrtümer sehr gut ablesen. Sie liegen meist unverhüllt vor unseren Augen. Epitheliale, neurogene oder vaskuläre Missbildungen, fehlerhaft gebildete Proteine, die in der Haut abgelagert werden, vielerlei genetische Wucherungen und Defekte, das ist das Schicksal der Haut. So waren unsere dermatologischen Väter als fein urteilende, morphologische Könner weit vor anderen Fachvertretern in der Lage, solche Irrungen zu erkennen und zu beschreiben. Unverdrossen haben sie diese in umfangreichen illustrierten Handbüchern zusammengetragen und wurden alsbald, dieser immensen Vielfalt willen, von anderen Fachvertretern belächelt. Wir zählen heute erstaunliche 2500 relevante und gut beschriebene Dermatosen, vielleicht sind es auch ein paar mehr.
Dabei trifft der Begriff „Dermatose oder Hauterkrankung“ bei weitem nicht den Kern dieser evolutionären Irrungen, denn bei vielen sogenannten Dermatosen sind die Fehler nicht nur in der Haut, sondern gleichzeitig auch in anderen Organen zu suchen. Hautveränderungen sind demnach oft genug kutane Projektionen von systemischen Pathologien. Die Paraneoplasien oder die vielfältigen Hautveränderungen bei Tumordispositionssyndromen sind schlagende Beispiele hierfür. Auch nicht onkogene Syndrome wie die häufige Psoriasis oder die atopische Dermatitis sind ohne jeglichen Zweifel systemisch relevante Multiorganerkrankungen. Mit anderen Worten, ein Dermatologe wird stets mit Rat und Tat den Menschen in seiner Gesamtheit bedenken.
Gerne greifen wir in der Dermatologie zu komplizierten Namen, um die Vielfalt der Erkrankungen zu dokumentieren (s. Altmeyer`s Enzyklopädie Medizin). Und häufig hat der Jahrmarkt der persönlichen Eitelkeiten zu einem Sammelsurium an Synonymen geführt, seit einigen Jahrzehnten durch anglizistischen Neuschöpfungen erweitert. Das hat so manchem Nicht-Dermatologen resignative Unlust auf unser Fach eingejagt. Viele Diagnosen fallen überdies unter die Rubrik „orphan diseases“, was das allgemeine Begehren, solche dermatologischen Kolibris näher kennenzulernen, ebenfalls vermindert.

 

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
das Leben kann nur mit Blick nach rückwärts verstanden und in der Schau nach vorwärts gelebt werden. Es war dieser etwas abgewandelte Satz des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, der mich zu diesem speziellen Newsletter mit Ausblick nach vorne veranlasst hat.
 

Søren Kierkegaard 1813-1855

Heute fließen in meinen Ausführungen 50 Jahre eigene dermatologische Erfahrungen mit ein: Von der Pike auf, als Student, als Assistenz- und Oberarzt unter den strengen Augen eines Herrn Prof. Nödl/Universität des Saarlandes, als Oberarzt unter Herrn Prof. Holzmann/Frankfurt und schließlich als ärztlicher Direktor und Geschäftsführer eines Universitätsklinikums der Ruhr-Universität. Somit erlaube ich mir heute einfach eine kritische Bewertung unseres Fachs und auch einen prüfenden Blick auf das medizinische Umfeld.

Versuch einer Analyse
Setzt man bei unserem Fach einmal die emotionale Brille ab und ersetzt sie durch eine ökonomische, so fällt bei einem Blick auf die häufigsten Hauterkrankungen sofort auf, dass nur wenige als schwer oder etwa lebensbedrohlich einzustufen sind. Der Großteil bedarf keiner akut-medizinischen Versorgung. Dieser konservative „non-akut-Aspekt“ vermittelt jedem Dermatologen bei seiner Tätigkeit eine ruhige Gelassenheit. Andererseits befällt ihn angesichts der allgemeinen, angespannten ökonomischen Lage eine gewisse, gelegentlich nagende Unsicherheit, was die Zukunft der stationären Dermatologie betrifft.
Welche Unsicherheiten?
Wir werden in Kürze eine „Zäsur“ in der Gesundheitspolitik erleiden (müssen), und diese wird voll zu Lasten der stationären, konservativen „Nicht-Akut-Fächer“ gehen. Dieses Szenario geht alle etwas an, Kollegen in den Praxen, Kollegen in den Kliniken.
Lassen Sie mich dies erläutern: Zeitenwende lautete das politische Kanzlerwort in dieser kriegsschwangeren Zeit, in der wir täglich, bisher jedoch leider vergebens, gehofft haben, dass dieser große europäische Krieg zu einem Ende kommen möge. Wir rechnen auch in den nächsten Monaten nicht mit einem Ende des unseligen Kriegstreibens mit seinen verheerenden weltweiten Auswirkungen. Exzessiv hohe Energiekosten, die den Staat zu massiven milliardenschweren Subventionen zwingen (Schuldenbremse), explodierende Lebensmittelpreise bei galoppierender Inflation im 2-stelligen Bereich sind die Folgen. Dies alles weckt, ausgelöst durch eine rekurrierende, russische Angriffswut, Existenzängste und Verunsicherung in Politik und Gesellschaft. Gleichzeitig wird militärisch massiv und kostenintensiv dauerhaft aufgerüstet werden, materiell und personell. Die logische Kehrseite dieses Szenarios: Der Staat wird zu rigorosen allgemeinen  Sparmaßnahmen gezwungen werden. Die Bevölkerung wird schon heute peu à peu auf einen breiten Sparkurs eingestimmt. Es ist unausweichlich, dass das kostenintensive Gesundheitssystem zwangsläufig darunter leiden wird. Das United Kingdom ist die Blaupause solcher Entwicklungen.
Es bedarf keiner prophetischen Gaben, um zu begreifen, dass die bereits andiskutierte große Gesundheitsreform des so unglücklich agierenden Gesundheitsministers zu drastischen Einschnitten und Umstrukturierungen v.a. in der teuren stationären Versorgung führen wird. Vieles (Untersuchungen und Behandlungen), was wir heute noch stationär abhandeln, wird zukünftig ambulant durchgeführt werden.
Und diese „Reform der stationären Begrenzungen“, das sage ich voraus, wird bei den Fächern, die nicht primär in die akutmedizinische Versorgung der Bevölkerung eingebunden sind, drastisch durchschlagen. Das sind nun mal die konservativen Fächer, die Dermatologie voran, zumal wir Dermatologen in den letzten Jahren mit einem zunehmenden kosmetisch-ästhetischen Beigeschmack wahrgenommen werden. Auch diese Fehlgewichtung führt dazu, dass die Dermatologie zunehmend als medizinisches Leichtgewicht betrachtet wird, was sicherlich nicht die akutmedizinische Bedeutung des Faches absichert.
 

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
bevor unsere Tränen fließen, erlaube ich mir noch einen kurzen, tatsächlich schon etwas wehmütigen Blick auf Geburt und Werdegang unseres geliebten Faches.
Wir schreiben das Jahr 1869. Das damals fortschrittliche und weltoffene Wien richtete als eine der ersten Universitäten überhaupt  ein eigenes Ordinariat für Dermatologie ein, allerdings noch getrennt von der Venerologie.

Das Alte Allgemeine Krankenhaus in Wien an der Alser-Straße um 1800 

 

Bei genauer Betrachtung war es tatsächlich die hohe Zahl an Geschlechtskranken, die damit einhergehende damalige Bedrohung für die Volksgesundheit, welche die ausschlaggebenden Argumente für die Gründung eines eigenständigen Fachgebiets „Haut- und Geschlechtskrankheiten“ lieferten. Geschlechtskranke und vielleicht auch die Krätzekranken wollte keiner haben, weder Internisten noch Chirurgen. Also wurden sie dem neuen Fach zugeschlagen. Diese naserümpfende Etikette heftete sich über viele Jahrzehnte an die Rockschöße der Dermatologie. Sie erschwerte zunächst die Emanzipation des Faches. Galten venerische Infektionen bei Wohlhabenden, bei Künstlern, in Adel und geistigen Elite als „heimliche“ Krankheit, so wurden sie doch mit längst verbotenen toxischen Medikamenten, privatim und für gutes Geld, behandelt. Das machte Dermatologen zu wohlhabenden Ärzten, die, wie der angesehene Dermatologe Franz Herrmann aus Frankfurt in seinen Vorlesungen berichtete, vierspännig zu den Patienten fuhren. Unsere Zunft gedieh damals prächtig unter und durch die Geißel der venerischen Erkrankungen.
In Deutschland erhielt Breslau im Jahre 1877 eine eigene Klinik für die Behandlung von Haut- und Geschlechtskrankheiten, Bonn folgte 1882. Zwischen 1918 und 1925 wurden an sämtlichen deutschen Universitätskliniken eigene Hautkliniken eingerichtet mit den dazugehörigen Ordinariaten. Seitdem gehören universitäre Hautkliniken, kommunale Krankenhäuser und dermatologische Praxen zum Alltäglichen. Die Dermatologie etablierte sich selbstbewusst zwischen den großen medizinischen Fächern. Dazu wurde immer wieder gratuliert und Freude über die gesundheitspolitische Bedeutung der dermatologisch-venerologischen Krankenversorgung und Verbesserung der Lebensqualität geäußert.
Schmerzhaftes krankenhauspolitisches Beben nach 1945
Nach 1945 wurden die zuvor landesweit grassierenden venerischen Erkrankungen durch die Errungenschaften des Penicillins zu interessanten, aber weitgehend ungefährlichen Erkrankungen herabgestuft. Die Syphilis verschwand allmählich aus dem wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fokus. Aus war es mit den so überaus lohnenden und sprudelnden Geldquellen. Auch krankenhauspolitisch schlug das Penicillin zu Buche. An allen großen Universitätskliniken kam es zu einer drastischen Reduktion der dermatologisch-venerologischen Bettenzahlen. Ein erstes schmerzhaftes Beben in der Dermatologie, denn die Zahl der Krankenhausbetten und die Zahl an Arzt- und Pflegekräften hängen im Krankenhauswesen nun mal eng zusammen wie Pat und Patachon.
 

Penicillin – das neue Zeitalter

Die stationäre Venerologie hatte sich über Nacht in Nichts aufgelöst. In verschiedenen Kliniken wie z.B. in Frankfurt/M betraf dies rund 50% der Bettenkapazitäten. Passé war auch die Ambition, auf dem Gebiet der venerischen Erkrankungen forscherisch aktiv zu bleiben. Als mit HIV rund 40 Jahre später eine neue venerische Infektion auftauchte, zunächst in kleineren kalifornischen Zirkeln, später weltweit epidemisch, war die Dermatologie schon nicht mehr zur Stelle. Virologen und Internisten spielten die erste Geige. Auch die stationäre Versorgung der HIV-Infizierten lief vielerorts komplett an dem Fach Dermatologie und Venerologie vorbei. Eine strukturelle und wissenschaftliche Chance wurde für die Dermatologie vertan, sie wurde auf die Zuschauerränge der wissenschaftlichen Arena verwiesen.
Nach 1945 entwickelte sich die Dermatologie schwerpunktmäßig zu einem externistischen Fach. Topische Arzneien und Prozeduren hatten Hochkonjunktur bei Psoriasis, Ekzemen und Allergien, selbst bei Lymphomen wurde großflächig mit topischem Stickstofflost hantiert. Der Gedanke, dass viele Erkrankungen zwar durch das Hautorgan wie in einem Schaufenster präsentiert werden, letztlich jedoch als Teilmanifestation von Systemerkrankungen zu begreifen sind, war einem Dermatologen noch weit bis in die 80er des letzten Jahrhunderts nicht zu vermitteln.

Dermatologische Systemerkrankungen
Heute weiß jeder dermatologische Assistent um den Systemcharakter vieler „Dermatosen“. Er weiß auch um die Wirkungen von Systemtherapeutika und kann Indikationen, Dosierungen und Nebenwirkungen sehr wohl einschätzen. Die Systemtherapie gehört nun zu den Standardtherapien bei Autoimmunerkrankungen, Psoriasis, atopischer Dermatitis, Urtikaria, Infektionen aller Art, Akne, fortgeschrittenen Melanomen, Karzinomen oder Lymphomen, nur um einige zu nennen. Biologicals dominieren die Behandlung der Autoimmunerkrankungen. In der onkologischen Therapie setzt die personalisierte Präzisionsmedizin neue Maßstäbe und verlangt hohe internistische Fachkompetenz. Der ökonomische Pferdefuß dieser Entwicklung: Bewegten sich früher die dermatologischen Behandlungskosten im einstelligen D-Mark -Bereich, so katapultieren sie sich heute bei einer Vielzahl von Diagnosen in den 5-6-stelligen Eurobereich.
Inzwischen ersetzen ambulant zu händelnde, moderne Externa die historischen, ausschließlich stationär durchgeführten nebenwirkungsreichen Behandlungsstrategien, wie z.B. das Goeckermann-Schema oder eine agressiv-toxische Cignolin-Therapie. Damit fallen auch zunehmend Gründe für eine stationäre Aufnahme in der Dermatologie weg.
Ich bin geneigt, diesen therapeutischen Umbruch als das zweite große historische Beben in unserem Fach bezeichnen. Die Folgen kann sich jeder Klinikleiter an den 5 Fingern einer Hand abzählen–eine weitere drastische Betten–und Personalreduktion! Wenn nicht heute, so doch morgen!

Fallpauschalen und die Dermatologie (DRG)
Vor rund 20 Jahren traf die gesamte deutsche Medizin, mithin auch die Dermatologie, ein fundamentaler Einschnitt bei der Abrechnung der Patientenfälle. Die Fallpauschalen wurden eingeführt. Spiritus rector war der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach, enger Berater der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, heute selbst medial omnipräsenter, wenn auch zunehmend weniger geschätzter, Gesundheitsminister.

Vieles was in deutschen Krankenhäusern schiefläuft, hat mit diesem, ursprünglich in Australien kreierten, DRG-System zu tun. Vor 2004, wir erinnern uns sehr genau an diese Zeiten, wurde ein Großteil des Krankenhausbudgets durch einfache Tagespauschalen berechnet: Je länger ein Patient im Krankenhaus verblieb, umso mehr Geld wurde von den Krankenhäusern vereinnahmt. Das war naturgemäß damals in einem hochteuren System der falsche Anreiz und rächte sich durch extrem lange Verweilzeiten der Patienten in deutschen Krankenhäusern. Mit der Einführung der Fallpauschalen sollte hier ein Lauterbachscher Riegel vorgeschoben werden. Das Ergebnis: Nach Einführung der DRGs schossen bestimmte „lukrative“ Fallpauschalen wie Raketen in den Himmel. Nur ein Beispiel von vielen anderen: Wurden bei Einführung der DRGs im Jahre 2004 noch 128.932 Kniegelenke eingesetzt, so waren es 2019 schon 193.759, eine 50% Steigerung. Es existieren genügend weitere Beispiele dafür, dass Fallschpauschalen vor allem dann nach oben schnellten, wenn sie sich als lukrativ erwiesen. Aber so ist nun mal die menschliche Natur, das Hemd ist einem näher als der Mantel.
Alles in allem wurde ein sich als falsch erweisender Anreiz (überlange Liegezeiten) durch einen anderen ebenso fehlerhaften finanziellen Anreiz (Run auf teure und gut planbare Prozeduren) ersetzt. Der Positiveffekt der DRG-Reform, nämlich die drastische Reduktion der Liegezeiten, wurde durch eine massive Ausweitung der stationären Fallzahlen konterkariert.
Das Medizinsystem ist jedoch ein fiskalisches System mit einem begrenzten Budget. Wenn DRG-Profiteure gegen jede medizinische Vernunft und Ethik ihre Leistungen exzessiv steigern, wird es finanziell einfach eng. Explodierende Arznei-, Geräte- und Personalkosten, neuerdings auch die Energiekosten, tun das Übrige, um die Medizin Tag für Tag zu verteuern. Der finanzielle Kollaps des Systems ist absehbar.
Und noch etwas möchte ich erwähnen. In einem System, in dem es v.a. um Effizienz geht, wandelt sich zwangsläufig die soziale, auf gegenseitiges Vertrauen basierende Beziehung zwischen Arzt und Patient. Der Patient wird zum Produktionsfaktor, der Arzt zur Effizienzmaschine. Die tiefe soziale und fürsorgliche Beziehung zwischen Arzt und Patient mutiert zu einer freudlosen, gegenseitig misstrauenden Geschäftsbeziehung.

Effizienz und Gesundheitssystem
Erschwerend kommt auf der Ebene der Geschäftsführungen dazu, dass hier inzwischen meist nicht-ärztliche Wirtschaftsökonomen residieren, denen Aufsichtsräte im Nacken sitzen. Ökonomen folgen inzwischen im Krankenhaus einer einfachen und auf Effizienz ausgerichteten Industrieregel: „Möglichst viele Fälle bei möglichst wenig Kosten“. So war auch die Entwicklung in der Pflege absehbar. Die Zahl der Pflegekräfte, die in diesem System weniger DRG-relevant ist, ist kräftig unter die Räder gekommen. Während sie sank, stieg die Zahl der zu behandelnden Fälle drastisch. Ein Circulus vitiosus. Dass Pflegekräfte in angespannten COVID-Zeiten plötzlich spürbar fehlen, ist das Ergebnis einer 2 Jahrzehnte langen Fehlentwicklung.
Und noch ein Effekt trat mit dem hochaufwändigen Abrechnungssystem auf: Ein hoher, für Ärzte fataler verwaltungstechnischen Arbeitsaufwand. Ärzte wurden mit Abrechnungstätigkeiten belastet. Spartechnisch getrieben, erfolgte dies ohne Ausgleich additiv zu den eigentlichen ärztlichen Aufgaben. Zusätzlich wurden Medizincontroller arbeitsnah platziert, um ärztliche Tätigkeiten und Verordnungen auf Effizienz zu trimmen. Die Bürokratisierung der Medizin führte zu Patienten-fernen, teuren Dienstleistungen, stets zu Lasten der Patienten-nahen Berufsgruppen. Und das Wichtigste kommt damit zwangsläufig zu kurz: Das Gespräch und die Empathie mit den Patienten, denn beide sind nicht kodierfähig.

 

„Ambulant vor stationär“ war das Credo von Krankenkassen und Politikern. Tatsächlich führt derzeit „ambulant vor stationär“ zu einem krankenhaustechnisch bedingten finanziellen Dilemma.
Warum ist das so? Alle an Krankenhäusern geführten Ambulanzen arbeiten systembedingt unwirtschaftlich. Diese Unwirtschaftlichkeit der Ambulanzen ist begründet durch einen notwendigen, hohen Personalaufwand bei den zugewiesenen komplizierten Erkrankungsfällen, bei einer zu Recht geforderten hohen Arbeitsqualität und unumgänglicher, kostenintensiver Diagnostik. Dieser Aufwand ist bei den derzeitigen ambulanten Abrechnungssätzen nicht zu finanzieren. Solche systembedingten Zusammenhänge sind jeder Geschäftsführung klar.
Somit wird der Slogan „ambulant vor stationär“ in der internen Flüsterpropaganda umgedeutet in: „Nur ein stationärer ist ein guter Patient“. Schnell verdientes Geld ist mit einem nur wenige Tage dauernden stationären „Checkup“ oder einer gut geplanten operativen Leistung zu machen, nicht jedoch mit wochenlanger, kleinteilig geplanter, ambulanter Diagnostik.
Volkswirtschaftlich betrachtet ist jedoch eine „stationäre Aufnahme zur Durchuntersuchung“ ein ökonomischer Unfug! 
Aber wie wird sich wohl ein Krankenhausarzt mit einem Medizinkontroller im Nacken entscheiden, wenn sich für eine identische operative Leistung im stationären Bereich leicht das 10fache Entgelt erlösen lässt wie bei ambulanter Durchführung. Richtig: der Patient wird stationär eingewiesen und mit einer guten Fallpauschale vom Krankenhaus abgerechnet. Alle freuen sich mächtig und reiben sich die Hände über den gelungenen Coup. So lassen sich die inzwischen an Krankenhäusern regelmäßig durchgeführten „Casemix-Sitzungen“ besser ertragen, denn schnell wird bei sinkendem Casemix (Casemix = stationäre Recheneinheit aus Fallzahl multipliziert mit der jeweiligen Fallschwere) der Fachabteilung schon mal eine Arztstelle, von den Pflegestellen einmal ganz abgesehen, gestrichen.
Das System der Fallpauschalen ist krank, weil es permanent toxische Anreize zur systematischen Verschwendung hochteurer Ressourcen setzt. Aus unserer Sicht führte ihre Einführung im Jahre 2004 weder zur Stabilisierung noch zur Reduktion der Kosten. Im Gegenteil, sie führte durch voraussehbare, falsche finanzielle Anreize zu einer Ökonomisierung, Überbürokratisierung und Entsozialisierung der Medizin.
Wir beklagen heute zu Recht eine enthumanisierte, seelenlose Medizin, die zu einer industrialisierten, auf Effizienz getrimmten Produktionsstätte geworden ist. Und jedem nachdenklichen Beobachter wird klar: Der heutige Medizinbetrieb ist, auch in einem so wohlhabenden Land wie Deutschland, über kurz oder lang nicht mehr finanzierbar. Und folglich lautet die bange Frage: Wen trifft es am härtesten? Und, vor allem, wo bleibt die stolze stationäre Dermatologie?
Es ist für uns unstrittig, dass der Strukturwandel zu Lasten der konservativen Fächer gehen wird. Viele bis dato erbrachte stationäre Leistungen können, bei geeigneter Infrastruktur, ambulant erbracht werden. Wie nach 1945 ist 2023/2024 in der Medizin mit einem heftigen strukturellen Umbruch zu rechnen. Die sich abzeichnende, finanziell getriebene Strukturreform wird tiefe Bremsspuren in der stationären Dermatologie hinterlassen.

 

Die Zukunft
Die stationäre Dermatologie wird sich zukünftig wie andere konservative Fächer auch an akutmedizinischen Parametern orientieren müssen. Dies ist eine Ökonomie-getriebene Notwendigkeit.
Es ist damit zu rechnen, dass das System der Fallpauschalen für die Dermatologie (und andere konservative Fächer) gekippt wird und einer wie auch immer gearteten, nicht an den Fallzahlen gemessenen Fächer-bezogenen „Pauschalfinanzierung“ weichen wird. Voraussehbar ist, und dies ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass derjenige, der für die Einführung der Fallpauschalen mitverantwortlich war, sie auch wieder zu Fall bringen wird. Wir sind gespannt darauf, wie er dies der Öffentlichkeit "verkaufen" wird.
Ebenso absehbar ist, dass teure medizinische Prozeduren zukünftig rationiert werden. Damit sind Wartezeiten und ein Aufschrei in den gesetzlich sozialversicherten Bevölkerungsschichten vorprogrammiert. Wohl dem, der eine Privatversicherung sein Eigen nennt. Er darf auch zukünftig auf eine optimale Behandlung mit kurzen Terminen hoffen.
Zu fordern ist, dass in jeder dermatologischen Klinik eine funktionell ausbalancierte ambulante Poliklinik eingerichtet wird, ggf. mit einer integrierten tagesklinischen Betteneinheit. Eine dermatologische Poliklinik könnte sich für anstehende Problemfälle breit öffnen.
Parallel dazu könnten stationäre Einheiten unbeschadet bettenreduziert werden, womit ein Beitrag zur Finanzstabilität eines Klinikums geleistet wird.

Konservative Polikliniken als Lösung des Problems

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Wir stehen vor einer Zeitenwende in unserer Medizin. Es waren die Verordnungen von kenntnisarmen Politikern, Inhabern von Rechnungsstellen, wechselnde Vorschriften, Überlegungen gewinnorientierter Gremien, neidvoller Sozialkundler, betriebswirtschaftlich eingenommener Schlechtwettermacher und engstirnige Ausschüsse, die diese brenzlige Situation herbeigeführt haben. Jeder nachdenkliche Arzt kennt die Schwächen des Systems. Wir Ärzte wissen, wohin die Reise gehen wird und tatsächlich wissen wir auch, was sich ändern muss. Da uns niemand fragt, habe ich in dem heutigen Newsletter meine Gedanken zu dieser „Zeitenwende“ aufgeschrieben.
 
Mit herzlichen kollegialen und schon vorweihnachtlichen Grüßen
 
 

Ihr Peter Altmeyer


Dr. Katja König/Soest und Frau Prof. Martina Bacharach-Buhles/Hattingen danke ich für Ratschläge und Korrekturen. 

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