Das deutsche Gesundheitssystem ist schwer krank
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
mit der Gesundheitspolitik begebe ich mich als ärztlicher Senior Hals über Kopf auf das Minenfeld der deutschen Sozialpolitik.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
mit der Gesundheitspolitik begebe ich mich als ärztlicher Senior Hals über Kopf auf das Minenfeld der deutschen Sozialpolitik. Vermutlich wird niemand diesen kritischen Kollegenbrief lesen wollen. Dennoch habe ich mich nach gründlicher Recherche entschlossen, zur (digitalen) Feder zu greifen, um Entwicklungen aufzuzeigen, die aus meiner Sicht in die falsche Richtung laufen.
Alle Ärztinnen und Ärzte spüren es: Über dem deutschen Gesundheitswesen, dessen Funktionieren den sozialen Frieden in unserem Land sichert, brauen sich schwere Gewitter zusammen. Dieses durch und durch demokratische Deutschland bietet seinen Bürgern einen üppigen sozialen Schutzschirm. Niemand wird zurückgelassen. Darauf sind wir als Bürger dieses Landes zu Recht stolz.
Aber dieses Jahrhundertwerk „Gesundheitssystem“ funktioniert nur, wenn es von wirtschaftlichem Wohlstand getragen wird, wenn es bezahlbar bleibt, wenn alle sorgsam mit den Ressourcen des Sozialstaates umgehen. Und genau daran hapert es gewaltig. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Deutschland lebt wegen seiner ausufernden Sozialpolitik weit über seinen Verhältnissen. Aber wer will das schon hören? Die Politiker, die es verbockt haben? Die Bürger, die es sich in den Nischen der sozialen Hängematte bequem gemacht haben? Kurz wird lamentiert, dann wieder zur Tagesordnung übergegangen.
Deutschland lebt wegen seiner ausufernden Sozialpolitik weit über seinen Verhältnissen.
Die Nachkriegszeit des stürmischen Aufbaus, des stetigen Aufwärtsstrebens und des Wachstums scheint endgültig passé zu sein. Deutschlands Industrieproduktion ist seit etwa 2018 tendenziell rückläufig, was nicht auf eine vorübergehende konjunkturelle Flaute hindeutet, sondern eher auf einen tiefgreifenden Strukturwandel mit Auswirkungen auf den allgemeinen Wohlstand.
Genau hier liegt das Versagen der deutschen Politik: Stagniert der Wohlstand des Staates insgesamt, müssen seine Ausgaben, mithin auch seine sozialen Leistungen, an die realen Möglichkeiten angepasst werden. Es ist die Aufgabe unserer Politiker, den Bürgern diese Zusammenhänge zu verdeutlichen. Unsere Bürger sind nicht dumm, sie wollen nur die Zusammenhänge begreifen.
Müde beklatschte Schönwetterreden mit Versprechungen auf ein „Mehr an ...“ kann jeder mittelmäßig begabte Politiker halten. Wir wollen sie nicht hören, zumal derartige Versprechungen sich dann als fatal erweisen, wenn sie nicht eingehalten werden.
Und nun zum eigentlichen Thema: den Gesundheitskosten. Diese sind komplex zusammengesetzt und nicht immer leicht zu verstehen.
Eines ist unstrittig: Sie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten gegenläufig zum Rückgang der Industrieproduktion und zuletzt auch des Bruttosozialprodukts deutlich nach oben entwickelt. Lagen sie 1991 (nach der Wende) noch bei rund 150 Milliarden Euro, so stiegen sie bis 2012 auf rund 400 Milliarden, bis 2022 auf 497 Milliarden und überschreiten inzwischen locker die 500-Milliarden-Grenze. Wohlgemerkt dies bei zunehmend rückläufiger Konjunktur und sich leerenden Kassen.
Leere Sozialkassen
Die Ursachen sind vielfältig. Nicht nur die Ausgaben in der Medizin, sondern auch die Masse der teuren Sozialgeschenke tragen zu dieser Schieflage bei.
Das zum 1. Januar 2023 eingeführte „Bürgergeld“ erweist sich als politisch motivierter Griff in die Sozialkassen. Sozialdemokraten, Liberale und Grüne haben sich darauf geeinigt, die Kosten der Krankenkassen für die geschätzten rund vier Millionen Empfänger des Bürgergeldes komplett zu übernehmen. Der staatliche Zuschuss an die Krankenkassen beträgt allerdings nur 119 Euro pro Patienten und Monat. Laut einer Studie des Forschungsinstituts iGES (ein Zusammenschluss von Forschungs- und Beratungsunternehmen in Europa) sind die tatsächlichen Kosten dreimal so hoch. Ein schlechtes Geschäft für die Krankenkassen. Dabei darf eines nicht vergessen werden: Alle arbeitenden Bürgerinnen und Bürger müssen über die Lohnnebenkosten die Finanzlöcher der Krankenkassen stopfen, eine 0,8-prozentige Teuerung steht an.
Nicht zu vergessen sind die Belastungen durch die Arbeitslosen, für die die Bundesagentur für Arbeit die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung schultert.
Auch die Krankheitskosten der Asylsuchenden führen zu einer immensen Belastung der Sozialsysteme. Es ist eine Tatsache, dass täglich zahlreiche Menschen einreisen, die hier gezielt und kostenlos behandelt werden. Teure Krebstherapien werden finanziert. Strittige Fälle landen dann vor Gericht, wo sich ein deutscher Richter mühsam mit komplizierten medizinischen Sachverhalten auseinandersetzen muss, deren endgültige Klärung oft Jahre dauert. Während dieser Zeit zahlt der deutsche Staat, unabhängig vom Ausgang und der Dauer der anhängigen Verfahren.
Hinzu kommt, dass nach deutschem Recht „niemand abgeschoben werden darf, der an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidet, wenn diese im Heimatland nicht ausreichend behandelt werden kann“ – auch das ein katastrophaler Gummiparagraf.
Welche Politiker hat sich wohl dieses „Abschiebeverhinderungsverfahren“ ausgedacht? Dass Asylbewerber auch in unserem Land eine gewisse Hilfe im Krankheitsfall erhalten sollen, entspricht unserem christlichen Grundverständnis. Dass sie aber einen vollen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung haben, ist für Menschen, die ihr ganzes Arbeitsleben lang in die Sozialkassen eingezahlt haben, schwer verständlich.
Alterung der Bevölkerung
Auch die zunehmende Überalterung der deutschen Bevölkerung verschärft die bedrohliche finanzielle Schieflage der Sozialkassen. Ältere Menschen sind häufiger krank als jüngere. Natürlich ist das kein einzigartig deutsches, sondern ein weltweites Phänomen. Die Folge sind deutlich höhere Kosten im Gesundheitssystem – die Beiträge zur Rentenkasse steigen und steigen – dieses Jahr um 0,2 Prozentpunkte und nächstes Jahr? Auch die Pflegekassen werden nicht müde, höhere Beiträge anzumahnen, um den prognostizierten Bedarf auszugleichen.
Arbeitszeitverkürzungen
Wenn in diesen schwierigen Zeiten zusätzlich Forderungen nach einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit laut werden, dann werden immer wieder und meist emotional der gefährdete Dachdecker und die völlig überarbeitete Krankenschwester als Beispiele für diese „Notwendigkeit“ angeführt. Richtig wäre eine ziel- und personenadäquate Verlängerung der Lebensarbeitszeit nach dem Motto: Wer länger arbeiten kann und will, sollte dies mit einem deutlichen finanziellen Aufschlag auch tun. Die Solidargemeinschaft wird es aufatmend danken. In Japan ist die Integration Älterer in den Arbeitsmarkt schon lange gut gelungen. Eine Reise der politisch Verantwortlichen dorthin könnte nicht schaden.
All diese Faktoren führen zu einer zentralen, hochbrisanten Zwangsläufigkeit: Arbeit wird in Deutschland immer teurer, zu teuer. Oder anders formuliert: Wir Deutschen leben eklatant über unsere Verhältnisse und – unsere Produkte sind auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig. Die Wohlstandsparty der Babyboomer ist vorbei. E finita!
Steigerung der Verteidigungskosten
Die zukünftigen Verteidigungskosten dürften die Finanznot des Staates weiter verschärfen. Lagen diese in der Ära Merkel noch bei 1,4 Prozent, so sind es heute bereits zwei Prozent. Künftig werden wir im Zeitalter des „amerikanischen Trumpismus“ und der russischen Bedrohung 3 Prozent, vielleicht sogar 3,5 Prozent unseres Bruttosozialproduktes ausgeben müssen. Deutschlands Gesellschaft müsse kriegstüchtig werden, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Das dürfte wahrscheinlich ein Jahrzehnt dauern. Die Wehrpflicht, aber auch andere Dienstpflichten (zum Beispiel ein soziales Jahr), dürften notwendige Pflichten für die Gemeinschaft werden.
Krankenhauswelten
Wenn ich bei dem auf Kante genähten Zukunftshaushalt über ambulante und stationäre Kosten nachdenke, dann fällt mir als ehemaligem Klinikchef und Geschäftsführer eines Universitätsklinikums ein Heinrich-Heine-Zitat ein: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Fast jeder dritte Euro des Gesundheitsbudgets fließt in die Kliniken, die übermäßig bettenlastig sind. Auf 1000 Einwohner kommen laut OECD in Deutschland 8,3 Krankenhausbetten. Weltweit wird diese Zahl nur noch von Japan und Südkorea übertroffen.
Folgt man den Aussagen des noch wenige Wochen im Amt verbleibenden Gesundheitsministers, so dürften von den derzeit noch existierenden 1900 Krankenhäusern (2021) Hunderte vom Markt verschwinden (Gesundheitsminister Karl Lauterbach, SPD). Dass sich damit sozialer Sprengstoff aufhäuft, dürfte klar sein. Nur sollte jeder vernünftig denkenden Menschen verinnerlichen, dass sich eine strauchelnde Gesellschaft nicht dauerhaft einen Anstieg der Gesundheitsausgaben leisten kann, der kontinuierlich über dem Anstieg des Bruttoinlandproduktes oder seines Wirtschaftswachstums liegt.
„Krankenhaus-Versorgungs-Verbesserungsgesetz“
Viele von uns schauen mit gemischten Gefühlen auf das sogenannte „Krankenhaus-Versorgungs-Verbesserungsgesetzes“ (KVVG), das durch den Bundestag am 17. Oktober dieses Jahres verabschiedet wurde. Dieses Gesetz stellt die bisherige Krankenhausfinanzierung komplett auf den Kopf.
Revidiert wird das, was zwei Jahrzehnte zuvor von den gleichen übereifrigen Leuten als das „Nonplusultra eines modernen Krankenhausmanagements“ propagiert wurde. Dass diese damalige Politik krachend gescheitert ist, davon ist heute keine Rede mehr. Ziel des KVVGs soll sein, die „Behandlungsqualität in den Kliniken zu verbessern und die flächendeckende medizinische Versorgung der Patienten im ländlichen Raum zu stärken“. Wer könnte sich solchen Zielen schon widersetzen wollen? Und vollmundig wird verkündet, dass „die Krankenhäuser von Bürokratie und wirtschaftlichem Druck entlastet werden“.
Wer wünscht sich nicht den Abbau von Bürokratie? Und welcher Arzt wäre gegen eine Verbesserung der medizinischen Versorgung, vor allem auf dem flachen Land? Auch gegen einen vernünftigen Bettenabbau wird es – außer von den betroffenen Kliniken – kaum Widerstände geben. Ich kann ich dazu nur sagen: Wir Ärzte gehören sicher nicht zu den Neinsagern, wenn es um eine sinnvolle Neuausrichtung unserer Krankenhauslandschaft geht. Wenn es darum geht, dass sich Ärzte wieder verstärkt ihrer eigentlichen Aufgabe, der Krankenversorgung widmen können. Wenn es darum geht, auch die ambulante ärztliche Leistung attraktiver zu gestalten.
Der zentrale Knaller dieses Gesetzes erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Man entdeckt ihn im Untertitel. Dort heißt es: „Die Fallpauschalen werden weitgehend durch Vorhaltepauschalen ersetzt. Gleichzeitig sollen nicht notwendige Krankenhäuser abgebaut oder umgewandelt werden.“ Das sind Sätze, die es in sich haben und deren Tragweite sich nur Insidern erschließt.
So manchem Betreiber eines kleinen oder mittleren Krankenhauses dürfte jedoch ein mulmiges Gefühl der Existenzbedrohung beschleichen. Denn nachdem er den Rechenstift gezückt und sein künftiges Budget kalkuliert hat, sieht er: tiefrote Zahlen bei den Einnahmen und horrend hohe bei den Ausgaben. Das Haus steuert schnurstracks in die Insolvenz.
Das Fallpauschalensystem: ein teurer Irrweg
An dieser Stelle kann ich Ihnen einen kurzen Exkurs in die Geschichte der Fallpauschalen nicht ersparen. Bis zum Jahr 2003 wurden die allgemeinen Krankenhausleistungen über krankenhausindividuelle Pflegesätze vergütet, die pro Aufenthaltstag von den Krankenkassen gezahlt wurden. So erhielten leicht erkrankte Patienten bei gleicher Behandlungsdauer dieselbe Vergütung wie schwer erkrankte. Die logische Folge: überlange Verweildauern der Patienten im Krankenhaus.
Für einen Klinikdirektor war damals die durchschnittliche Bettenauslastung die entscheidende Größe, an der sein Erfolg gemessen wurde. Man kann sich vorstellen, dass hier mit allen Mitteln getrickst wurde. Mit der Reform im Jahr 2003 wurde diese alte Systemsünde korrigiert und durch ein „leistungsorientiertes und pauschalierendes Vergütungssystem“ (§ 17b Abs. 1 Satz 1 KHG) ersetzt, das nun nicht mehr die Verweildauer honorierte.
Das deutsche DRG-Fallpauschalensystem wurde als intelligentes und „lernendes System“ propagiert. Die Klinikärzte lernten schnell. Von nun an dominierte marktwirtschaftliches und wettbewerbsorientiertes Denken das ärztliche Handeln. Der Krankenhausarzt wurde plötzlich zum Verkäufer einer medizinischen Leistung. Das System wurde auf Abrechnungseffizienz getrimmt. Die Devise lautete: stationär vor ambulant. „Nur ein stationärer Patient war in diesem System ein guter Patient.“
Zusätzlich angeheizt wurde dieser, inzwischen fast schon marktschreierische „Verkauf stationärer Leistungen“, noch durch die Tatsache, dass häufig für ein und dieselbe Leistung im stationären Setting ein Vielfaches dessen zu erlösen war wie bei ambulanter Durchführung. Ein grundsätzlicher Denkfehler im System.
Eine vormals kümmerlich schlecht bezahlte ambulante Leistung wurde bei stationärer Durchführung unversehens zur hoch dotierten DRG. Wer hätte das gedacht. Wer würde sich unter diesen Umständen schon einer stationären Einweisung eines Patienten widersetzen? Das DRG-Picking war angesagt.
Eine weitere schlechte Nebenwirkung des DRG-Systems waren die völlig falschen Kalkulationen beispielsweise in der Kinderheilkunde und der Geburtshilfe. Solche Abteilungen verschwunden still und heimlich. Nach ihrem Exodus wurde vielstimmig gejammert und geweint.
Jetzt warten alle auf das künftige Vergütungssystem, bei dem pauschalisiert die Vorhaltung einer Abteilung honoriert wird. Das bedeutet, dass Krankenhäuser für das Vorhalten bestimmter Leistungen ein Entgelt erhalten, egal ob und wie viele Patienten sie tatsächlich behandeln – also eine Art Existenzgarantie auch bei geringer Auslastung. Viel Zeit zur Einführung ist ja nicht mehr gegeben. Auf die Fußangeln im Gesetz darf man gespannt sein.Realität des medizinischen Alltags
Die dröhnenden Mayday-Rufe der Politik werden natürlich gehört. Inzwischen wollen alle sparen, zumindest reden alle davon. Am häufigsten reden die Vertreter der Krankenkassen, die Politiker am lautesten, die Pharmavertreter am wenigsten, die Klinikverwaltungen wenden sich entsetzt ab.
Natürlich haben die Teuerungen im Gesundheitswesen auch etwas mit einer Mengenausweitung der medizinischen Leistungen, vor allem der technischen Leistungen zu tun. Letztere werden durch unser Abrechnungssystem überdurchschnittlich gut honoriert. Ein enormer Fehlanreiz im System. Die eigentlich wichtige Arbeit am Patienten wird geradezu lächerlich schlecht bezahlt.
Eine Blickdiagnose „ohne alles“ durch einen erfahrenen Arzt ist in diesem System ein glatter Verlustposten. Sie ist tunlichst zu vermeiden, ein „No Go“. Leitliniengerechte Beratungsleistungen bei komplizierten onkologischen oder immunologischen Therapien sind schlecht honorierte "Zusatzgeschäfte" für den Arzt. Die verzweifelte Krebspatientin, die mitten im Sprechstundenbetrieb akut beraten und getröstet werden muss, ist abrechnungstechnisch gesehen ein glatter Minusfaktor.
Auch aus diesen Konstellationen heraus hat die heutige Medizin eine völlig absurde Schieflage entwickelt. Die moderne Medizin ist zur Meisterin des Labors, der Bildgebung und des lukrativen DRG-Pickings mutiert.
Natürlich haben die enormen Möglichkeiten der modernen Medizin dazu beigetragen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Deutschen mit 81,2 Jahren inzwischen hoch ist. Im Vergleich zum EU-Durchschnitt (81,5 Jahre) ist sie jedoch geringer. Nimmt man dann jedoch die Länder Schweiz, Spanien und Italien als Vergleich, so beträgt das Minus sogar 3 sowie 2,8 und 2,6 Jahre.
Und wie zum Hohn sind die Gesundheitsausgaben in Deutschland? EU-weit die höchsten. 5317 Euro pro Kopf und Jahr schlagen zu Buche. Damit liegen die Deutschen 50 Prozent über dem EU-Durchschnitt. Stattliche 12,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind 2022 in die Gesundheit der Bürger investiert worden. Italiener verbrauchen weniger medizinische Ressourcen, ernähren sich aber bewusster und sind mobiler.
Drei Krankheitsgruppen möchte ich unter dem allgemeinen Kostenaspekt exemplarisch betrachten.
Die arterielle Hypertonie, ICD10-10.90
Sie ist die häufigste internistische Erkrankung und gilt nach der „Global Burden for Disease Study“ von 2015 als wichtigster Risikofaktor für Lebensqualität und Lebenserwartung. Niemand bestreitet ernsthaft, dass die Höhe des systolischen Blutdrucks der beste Indikator für Schlaganfall und koronare Herzkrankheit ist. Was aber als Bluthochdruck gilt, wird von einer Expertenkommission festgelegt.
Vor der Jahrtausendwende galt ein Blutdruck von 140/90 mmHg als normoton, ein Blutdruck von 160/90 mmHg als hyperton. Nach der Jahrtausendwende wurden die Grenzwerte für den Blutdruck deutlich niedriger angesetzt, sodass immer mehr, vor allem ältere Menschen als hyperton eingestuft wurden. Welche Grenzwerte noch als normal gelten, ist umstritten. Nach den Leitlinien der europäischen Fachgesellschaften (ESF/ESC) gilt derzeit ein systolischer Blutdruck von >140 mmHg und ein diastolischer Blutdruck von 90 bis 99 als Hypertonie 1. Im Gegensatz dazu definiert die US-Leitlinie bereits Blutdruckwerte von >130/80 mmHg als Hypertonie.
Eines aber ist klar: Solche Diskussionen sind ein Spiel mit der Angst, sie sind eine Wette auf ein längeres Leben, die nicht eingelöst wird. Der ehemals Gesunde wird zum behandlungsbedürftigen, angstbesessenen Patienten, obwohl sich an seinem Gesundheitszustand nichts geändert hat. Allein durch die Ausschöpfung allgemeiner Maßnahmen (dynamisches Ausdauertraining, mediterrane und salzarme Ernährung etc.) können 25 Prozent der leichten Hypertonien normalisiert werden.
Aber wer sollte schon diesen steinigen Weg beschreiten, der beim Patienten Disziplin einfordert und beim Arzt nicht-honorierte zusätzliche Beratungsleistungen unumgänglich macht?
Die Schuppenflechte
Ein dermatologisches Beispiel: Während vor 20 Jahren die Therapie mit der Verordnung diverser Salben und einer milden UV-Therapie einige Hundert Euro pro Jahr kostete, liegen die jährlichen Therapiekosten aktuell bei 15.000 bis 21.000 Euro. Unbestritten ist, dass diverse Biologika Erstaunliches geleistet haben. Dennoch muss bei dieser häufigen Erkrankung die Frage nach einer strengen Indikation und ihrer Bezahlbarkeit gestellt werden.
Behandlung der Wohlstands-Adipositas auf Kassenrezept
Ein drittes Beispiel ist die Abnehmspritze Wegovey, die das Pharmaunternehmen Novo Nordisk zum wertvollsten Unternehmen Europas gemacht hat. Sein Börsenwert von 400 Milliarden Euro ist höher als das Bruttosozialprodukt des Heimatlandes Dänemark, eine merkwürdige Dysbalance.
Ungeachtet der Tatsache, dass der Wirkstoff Semaglutid bei Diabetes mellitus zugelassen ist und von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet wird, führte der Hype um die Schlankheitsspritze zu vielstimmigen Forderungen, dies auch bei banaler Adipositas zu tun. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat dem jedoch einen Riegel vorgeschoben und Wegovey als Lifestyle-Medikament eingestuft. Gesetzliche Krankenkassen dürfen diese grundsätzlich nicht bezahlen. Das ist gut so.
Wohlstands-Adipositas auf der einen Seite und kassenfinanzierte Schlankheitsspritzen auf der anderen Seite, das ist der grundsätzlich falsche Ansatz vor allem in einer Zeit begrenzter Ressourcen, zumal nach Absetzen des Medikamentes ein Jo-Jo-Effekt einsetzt. Es geht also um eine Dauertherapie.
Der Ausblick
187.441 Ärzte und Psychotherapeuten gibt es in Deutschland. Jährlich rund 553 Millionen anfallende Behandlungen verursachen im kommenden Jahr bei den Krankenkassen eine Finanzierungslücke von rund 13,8 Milliarden Euro. Diese muss laut Gesetz durch höhere Zusatzbeiträge geschlossen werden. Die Folge: Die Krankenkassenbeiträge werden im kommenden Jahr um 0,8 Prozentpunkte steigen. Das sei die größte Beitragserhöhung seit 1975, sagte DAK-Chef Andreas Storm der Bild-Zeitung. Ohnehin sind die Beiträge so hoch wie noch nie. Sie liegen jetzt bei 17,1 Prozent des Bruttolohns. Arbeit war in Deutschland schon immer zu teuer und wird jetzt noch teurer und irgendwann nicht mehr bezahlbar sein.
Die Schlussfolgerungen aus meiner Sicht:
Die Gesundheitsausgaben sind in Deutschland zu hoch. Sie müssen grundsätzlich an das Bruttosozialprodukt gekoppelt werden. Dazu muss an mehreren Stellschrauben im System nachjustiert werden. Bestimmte teure technische und operative Leistungen sind hinsichtlich ihrer Mengenausweitung kritisch zu beleuchten.
Ambulant vor stationär. Identische Leistungen, die sowohl ambulant als auch stationär erbracht werden können, sollten möglichst nicht mehr stationär abgerechnet werden. Sogenannte Hybrid-DRGs, also die Abrechenbarkeit von DRGs in geeigneten Praxen, sind ein Schritt in die richtige Richtung.
Die Bettenzahl in den Krankenhäusern ist bundesweit zu hoch: Ein Bettenabbau in einzelnen, nicht-intensivmedizinischen Abteilungen ist zwingend. Nicht mehr rentable kleine und mittlere Krankenhäuser sollten grundsätzlich in ambulante Gesundheitszentren mit Notfallpraxis und „teilstationären“ Einheiten umgewandelt werden.
Die Zahl der Medizinstudienplätze muss erhöht werden. Mit 12,4 neuen Medizinerinnen und Medizinern je 100.000 Bürger und Jahr liegt Deutschland deutlich unter dem EU-Schnitt von 15,5/100.000 pro Jahr. Hinzu kommt, dass in Deutschland 23 Prozent der Ärztinnen und Ärzte 60 Jahre oder älter sind. Der Nachholbedarf liegt auf der Hand. Deutschland muss sich anstrengen, um dieses strukturelle Defizit auszugleichen. Der Zugang zum Medizinstudium muss erleichtert werden. Gefordert werden andere Kriterien (zum Beispiel Berufsausbildung, Praktika etc.) als „utopische Abiturnoten“. Denkbar wäre auch nach einem obligaten Praktikumsjahr, zunächst alle dann noch Interessierten zuzulassen und über Prüfungen die für den Arztberuf Geeigneten herauszufiltern.
(Junge) Kolleginnen und Kollegen müssen für die Niederlassung in eigener Praxis motiviert und begeistert werden, um dem fatalen Trend zu immer mehr MVZs mit angestellten Ärzten, die teilweise von fachfremden Trägern (Aldi, Dr. Oetker etc.) geführt werden und rein auf Gewinnmaximierung ausgerichtet sind, entgegenzuwirken. Das wird erreicht:
durch eine deutliche Entbürokratisierung der Zulassungsverfahren und die Aufhebung der Niederlassungsbeschränkung
durch die Abschaffung überflüssiger und völlig überzogener gesetzlicher Anforderungen an Arztpraxen, insbesondere im Bereich des Hygienemanagements und des Arbeitsschutzes
durch die – nach Haus- und Kinderärzten – überfällige Entbudgetierung der Fachärzte, damit ärztliche Leistungen zu 100 Prozent vergütet werden können
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
jeder weiß es, die Industrie weiß es, die Arbeitnehmer ahnen es, Donald Trump weiß es auch, Wladimir Putin spekuliert darauf, die Börsianer haben ihre Wetten schon abgeschlossen und die Politik schweigt: Deutschland lebt über seine Verhältnisse. Arbeit ist in Deutschland deutlich zu teuer geworden. Das hat zur Folge, dass „Made in Germany“ international immer weniger konkurrenzfähig ist.
Trotzdem hört man von vielen Seiten Erstaunliches: vehement vorgetragene Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung – sie gehen an den Notwendigkeiten der Zeit vorbei. Jeder ahnt, dass in Deutschland in Zukunft nicht kürzer, sondern wieder länger gearbeitet werden muss.
Auch in der Gesundheitspolitik, wo die Selbstbedienungsmentalität fröhliche Urstände feiert, wird es in Zukunft kein „Weiter so“ geben. Es ist die Zeit zum mutigen und entschlossenen Handeln – Deutschland ist keinesfalls nicht verloren.
In diesem Sinne verbleibe ich mit den besten Grüßen aus dem fernen Oberitalien
Ihr
Peter Altmeyer