Funktionelle Herzbeschwerden F45.30

Autor: Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

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Zuletzt aktualisiert am: 25.11.2024

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Synonym(e)

da Costa- Syndrom; Effort- Syndrom; Herzangstneurose; Herzangstsyndrom; Herzneurose; Herzphobie; Kardiophobie; nervöses Herz; neurozirkulatorische Asthenie; psychogene Herz- Kreislaufstörung; soldier’ s heart; somatische Belastungsstörung; somatoforme autonome Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems; somatoforme Störung; Sterbeangstkrankheit; vegetative Dystonie

Erstbeschreiber

Die Herzangst ist bereits seit dem Mittelalter bekannt. Erstmals beschrieben wurde sie 1855 vom Internisten W. Stokes (Stoll 2004).

Im Jahre 1871 bezeichnete der nordamerikanische Truppenarzt J. M. da Costa (1857 – 1903) die Symptomatik als „soldier’ s heart“ (Payk 2007). 

Die Begriffe „Herzneurose“ und „Herzangstneurose“ wurden 1986 von Richter und Beckmann erstmals verwendet (Machleith 2004).

Der wohl bekannteste Patient mit funktionellen Herzbeschwerden war Sigmund Freud. Er glaubte zunächst, an einer Myokarditis zu leiden. Erst in späteren Jahren gab er diese Diagnose auf und bezeichnete selbst sein Leiden als „Herzneurose“ (Stoll 2004).

 

 

Definition

Unter funktionellen Herzbeschwerden versteht man das chronisch- rezidivierende Auftreten thorakaler Beschwerden ohne den Nachweis einer somatischen Erkrankung.

Funktionelle Herzbeschwerden können allerdings auch gehäuft im Zusammenhang mit folgenden somatischen Erkrankungen auftreten:

  • Syndrom X
  • Mitralklappenprolaps
  • KHK
  • extrakardialen Erkrankungen wie z. B.:
    • thorakale Alterationen der Wirbelsäule
    • gastrointestinalen Erkrankungen
    • periphere oder zentrale Nervenerkrankungen
    • Lungenerkrankungen (Erdmann 2006).

Einteilung

Der „Diagnostische und statistische Leitfaden psychischer Störungen“ = (DSM- 5) bezeichnet funktionelle Herzbeschwerden neuerdings als „Somatische Belastungsstörung“ und legt folgende Diagnosekriterien zu Grunde:

  • A. Es bestehen ein oder mehrere somatische Symptome, die als belastend empfunden werden oder bei der alltäglichen Lebensführung zu erheblichen Einschränkungen führen.
  • B. Es bestehen exzessive Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen hinsichtlich der Symptomatik oder damit einhergehender Sorgen um die Gesundheit, die sich äußern in:
  • andauernden und unangemessenen Gedanken bzgl. der Ernsthaftigkeit der bestehenden Symptomatik
  • anhaltend stark ausgeprägten Ängste bzgl. der Symptome und der Gesundheit im Allgemeinen
  • exzessivem Aufwand an Energie und Zeit, die für die Gesundheitssorgen und Symptome aufgebracht werden
  • C. Es muss keins der somatischen Symptome durchgängig vorhanden sein, der Zustand der Belastung durch die Symptome liegt aber typischerweise länger als 6 Monate zurück (Herrmann- Lingen 2019)

 

  • Andauernde funktionelle Herzbeschwerden:

Als „andauernd“ werden diese bezeichnet, wenn sie länger als 6 Monate anhalten. 

- Leicht: Ein Merkmal aus Punkt B (s. o.) trifft zu

- Mittel: Zwei oder mehr Merkmale aus Punkt B (s. o.)

- Schwer: Zwei oder mehr Merkmale aus Punkt B (s. o.) sowie zusätzlich multiple somatische Symptome oder sehr schwer ausgeprägte Symptome (Herrmann- Lingen 2019)

 

Man differenziert testpsychologisch zwischen 2 Patientengruppen:

  • Typ A:

Typ A ist gekennzeichnet durch hilfloses, kindliches, anklammerndes, sich selbst schonendes Verhalten. Er findet sich mit ca. 70 % deutlich häufiger als Typ B.

  • Typ B:

Typ B hingegen ist bemüht, die Herzängste selbst zu bewältigen, indem er aktiv und betont selbständig agiert  (Machleith 2004). Er verleugnet seine Ängste und Unsicherheiten (Stoll 2004). Es handelt sich dabei aber wegen der tief empfundenen Abhängigkeit um eine sog. „Pseudoautonomie“ (Machleith 2004).

Psychoanalytisch gesehen hat eine bedeutende Erziehungsperson (meistens handelt es sich dabei um die Mutter) die während der Entwicklung des Kindes auftretende zunehmende Selbständigkeit verhindert, um ihren Einfluss beim Kind aufrecht zu erhalten. Das Herz stellt dabei beim späteren Patienten die letzte Objektrepräsentanz dar (Machleith 2004).

 

 

Vorkommen/Epidemiologie

Vorkommen /Epidemiologie

Funktionelle Herzbeschwerden sind eine ausgesprochen häufig auftretende Störung (Herrman- Lingen 2019), die sich bei ca. 3 % der Allgemeinbevölkerung findet (Machleith 2004).

Ca. 15 % aller Patienten, die den Hausarzt wegen kardialer Beschwerden aufsuchen, leiden darunter. Betroffen sind in erster Linie Patienten < 40 Jahren (Herold 2022). Männer überwiegen mit 60 – 70 % deutlich gegenüber den Frauen (Machleith 2004).

In der kardiologischen Praxis liegt die Zahl der Patienten mit sog. „medically unexplained symptoms“ zwischen 30 – 40 %, teilweise aber komorbid zu organischen Herzerkrankungen (Marx 2022).

Zunächst glaubte man an ein drastisches Abnehmen der Prävalenz nach dem 40. Lebensjahr. Seit Anfang der 70 er Jahre, mit Einführung der Koronarangiographie zeigte sich, dass bei 10 – 50 % der (älteren) Patienten gar keine bis dahin vermutete KHK vorlag und man somit ebenfalls von funktionellen Herzbeschwerden ausgehen musste (Herrmann 1999).

 

 

Ätiopathogenese

Die Ursache der funktionellen Herzbeschwerden liegt im psychogenen / psychosomatischen Bereich. Es bestehen bei diesen Patienten neben einer erhöhten Angstbereitschaft, auch eine gestörte Angstverarbeitung, eine vegetative Labilität und eine übervorsichtige Persönlichkeit (Herold 2022).

Ebenso fanden sich vermehrt Trennungskonflikte bei hochambivalent besetzten Personen, an die die Patienten symbiotisch gebunden sind (Herrmann 1999).

Pathophysiologie

Funktionelle Herzbeschwerden entstehen auf der Basis komplexer Wechselwirkungen zwischen biologischer, psychischer, sozialer und iatrogener Faktoren:

  • Auslöser:

Den Auslöser bildet meistens ein belastendes Lebensereignis wie z. B. Trennung, Verlust des Partners, berufliche Krise etc.

  • Erhöhte psychische Vulnerabilität:

Bei der Exploration lassen sich oftmals gravierende biographische Belastungsfaktoren nachweisen, die eine Ausreifung körperlicher Resilienz beeinträchtigen wie z. B.: Vernachlässigung, Misshandlung etc.

  • Einschränkung der Affektregulierung:

Typisch für funktionelle Herzbeschwerden ist die Verleugnung des Zusammenhangs mit dem Auslöser und der Symptomatik.

  • Kognitive Fehlbewertung:

Die körperlichen Symptome werden durch soziale Erfahrungen körperlich fehlbewertet wie z. B. Herzerkrankung der Eltern, eigene körperliche Erkrankungen etc.

  • Somatosensorische Amplifizierung:

Der Patient neigt dazu, normal- physiologische Phänomene wie z. B. Herzklopfen verstärkt wahrzunehmen, was letztlich einem Teufelskreis der Angst aktiviert.

  • Neurobiologische Aktivierung des Schmerzerlebens:

Die Schmerzwahrnehmung ist an komplexe kognitive und emotionale Prozesse gebunden und immer subjektiv. So können negative Emotionen durch ansonsten unterschwellige somatosensorische Reize zu einem Schmerzgefühl augmentiert werden.

  • Dekonditionierung:

Um die ängstigenden Symptome zu vermeiden, kommt es oftmals zu einem körperlichen Schonverhalten. Dadurch wird das Auftreten der Symptome bei leichten körperlichen Belastungen begünstigt und es entsteht ein Circulus vitiosus.

  • Iatrogene Faktoren:

Iatrogene Faktoren können erheblich zur Chronifizierung des Leidens beitragen wie z. B. eine kardiologische Verlegenheitsmedikation, unkritische Mehrfachdiagnosen, eine vorschnelle Krankschreibung bzw. Empfehlung zur Berentung, aber auch die vorzeitige oder ungeeignete Konfrontation mit der funktionellen Genese der Erkrankung. 

(Marx 2022)

 

 

Manifestation

Das überwiegende Manifestationsalter liegt zwischen 30 – 40 Jahren (Machleith 2004).

 

 

Klinisches Bild

Die Patienten klagen über:

  • thorakale Schmerzen, die mitunter in den (linken) Arm ausstrahlen, aber typischerweise belastungsunabhängig sind
  • Auftreten von sog. „Herzanfällen“ mit:
    • Angstattacken
    • Tachykardien
    • Globusgefühl
    • Panikgefühl
    • dem Gefühl, Sterben zu müssen
    •  Zittern
    • Schwitzen
    • Ohnmachtsgefühl (Herold 2022)
    • Palpitationen (Herrmann 1999)
  • Symptome einer Hyperventilation (s. d.) mit:
    • Parästhesien der Akren
    • Pfötchenstellung 
    • Kurzatmigkeit
    • Schwindel 
    • Benommenheit
    • Synkopen möglich bei niedrigem pCO2 (Tunnessen 2019)
  • ständiges Beschäftigen mit der Möglichkeit einer kardialen Erkrankung durch z. B.:
    • übermäßiges Kontrollbedürfnis
    • enge Arzt- Patientenbeziehung
    • Angst, es könnte etwas übersehen werden
    • Schonungstendenz
    • pedantisches Beachten ärztlicher Vorschriften (Herold 2022)

 

 

Diagnostik

  • Anamnese, einschließlich der biopsychosozialen Anamnese. Nur diese kann letztlich Hinweise auf den Auslöser erbringen. Sie sollte folgende Fragen umfassen:
  • psychisches Empfinden
  • dem psychosozialen Auslöser
  • der subjektiven Krankheitstheorie
  • Familienanamnese
  • Herzerkrankungen im Familien- bzw. Freundeskreis (Marx 2022)
  • Welche Untersuchungen erfolgten bislang? Wiederholte Abklärungen bzw. Spezialuntersuchungen sollten möglichst vermieden werden (Herrmann 1999).
  • Ausschluss organischer Erkrankungen nach kritischer Gewichtung (Marx 2022) durch z. B.:
    • körperliche Untersuchung
    • Blutdruckmessung
    • Ruhe- EKG
    • Belastungs- EKG
    • Röntgen- Thorax
    • Screening- Laboruntersuchung einschließlich TSH- basal
    • eventuell kardiologische Untersuchung mit Langzeit- EKG und Echokardiographie etc. (Herold 2022)

Oftmals erfolgt der Erstkontakt notfallmäßig. Nach somatischer Abklärung mit Ausschluss einer schwerwiegenden Herzerkrankung ist der Patient zunächst entlastet, allerdings erscheint er kurze Zeit später oftmals erneut notfallmäßig mit der selben Symptomatik. Bei Hinweisen auf eine psychosomatische Ursache reagiert der Patient fast immer ärgerlich und es beginnt das sog. „doctor hopping“ (Marx 1999).

 

 

Differentialdiagnose

 

 

 

Therapie

Der Patient sollte in einem Gespräch über die Harmlosigkeit seiner Beschwerden aufgeklärt werden (Herold 2022), aber nicht bevor ein alternatives Krankheitsbild wie z. B. Neurobiologie des Schmerzes, allgemeines Stressmodell etc. dem Patienten erklärt wurden (Marx 2022). Der Patient benötigt eine positive Erklärung seiner Beschwerden zusammen mit dem Gefühl, dass seine Form der Erkrankung dem Arzt bekannt ist (Marx 2022).

Dabei ist zu beachten, dass aufgrund der spezifischen Störungsmerkmale der Patient keine primäre Einsicht in die Psychogenese seiner Erkrankung hat (Marx 2022).

Techniken der psychosomatischen Grundversorgung haben sich hierbei vielfach als hilfreich erwiesen (Marx 2022).

Weitere unterstützende Maßnahmen:

  • Erlernen von Entspannungstechniken wie z. B. autogenes Training, Biofeedback- Verfahren, progressive Muskelentspannung etc. (Stoll 2004).
  • körperliches Training
  • Psychotherapie
  • psychosomatische Behandlung
  • bei Tachykardie evtl. Verordnung eines Beta- Blockers
  • bei ausgeprägter Symptomatik kurzfristiger Einsatz von Tranquilizern (Cave: Abhängigkeit)

(Herold 2022)

  • Betablocker:

Es liegt keine wissenschaftliche Evidenz vor hinsichtlich einer Verbesserung des Krankheitsbildes bei funktionellen Herzbeschwerden (Marx 2022).

  • bei atypischem Brustschmerz können folgende Medikamente einen moderaten Effekt aufweisen:
    • selektive Serotonin- Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
    • Serotonin- Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmer (SNRI)
    • tri- oder tetrazyklische Antidepressiva wie z. B. Amitriptylin (Marx 2022)

 

 

Verlauf/Prognose

In ca. 50 % der Fälle kommt es zu einer Chronifizierung mit ständigen Arztbesuchen (dem sog. „doctor hopping“ [Marx 2022]), unnötiger Einnahme von Medikamenten und unnötigen Hospitalisierungen (Herold 2022).

Die Rate der Myokardinfarkte und Todesfälle war während einer 11 Jahre andauernden Studie zwar niedrig, der subjektive Verlauf aber größtenteils unbefriedigend (Herrmann 1999). In manchen Studien zeigte sich sogar eine inverse Beziehung zwischen (Herz-) Angst und dem Risiko, an einer kardialen Erkrankung zu versterben (Marx 2022).

 

 

Literatur
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  1. Erdmann E et al. (2006) Klinische Kardiologie. Springer Verlag Berlin / Heidelberg 835 - 842
  2. Herold G et al. (2022) Innere Medizin. Herold Verlag 260 - 261
  3. Herrmann C et al. (1999) Serie: Funktionelle Störungen – Funktionelle Herzbeschwerden. Dtsch Arztebl 96 (§) A – 131 / B – 108 / C – 105
  4. Herrmann- Lingen C et al. (2019) Psychokardiologie: Ein Praxisleitfaden für Ärzte und Psychologen. Springer Verlag Deutschland 121 - 122
  5. Machleith W et al. (2004) Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Georg Thieme Verlag Stuttgart / New York 131 - 132
  6. Marx N et al. (2022) Klinische Kardiologie. Springer Reference Medizin 1 – 8
  7. Payk T R (2007) Psychopathologie: Vom Symptom zur Diagnose. Springer Verlag Heidelberg 226
  8. Schultz- Venrath U (2021) Mentalisieren des Körpers: Mentalisieren in Klinik und Praxis. Fachbuch Klett Cotta Verlag 151

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