Funikuläre Spinalerkrankung E53.8+G32.0*

Autor: Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

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Zuletzt aktualisiert am: 22.08.2024

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Erstbeschreiber

Synonyme

Funikuläre Myelose; Myelopathie; Funicular Myelose; Funicular Spinal Cord Disease; subakute kombinierte Degeneration (SCD) des Rückenmarks;

 

 

Erstbeschreiber

Richard Henneberg (1868– 1962) prägte für die funikuläre Spinalerkrankung zunächst die Bezeichnung „Myelitis funicularis“. Da es sich aber um keinen entzündlichen Prozess handelt, schlug er den Namen „Funikuläre Myelose“ vor (Czerny 1935).

 

Für die Strukturaufklärung des Cobalamin (Vitamin B12) erhielt Dorothy Hodgkin 1964 den Chemie- Nobelpreis (Berlit 2011).

Definition

Die funikuläre Spinalerkrankung ist ein neurologisch- psychiatrisches Syndrom, bei dem in erster Linie Vitamin B12 Mangel (Herold 2022), seltener Folsäure- (Ende- Henningsen 2018) oder Kupfermangel bestehen (Hacke 2019). Häufig geht der Vit. B12- Mangel zusätzlich mit einem Folsäuremangel einher (Gröber 2013).

Einteilung

Eine funikuläre Spinalerkrankung kann folgende Strukturen betreffen:

- Markpyramidenbahn

- posteriore funikuläre Bahnen

- zerebelläre laterale Bahnen (Gröber 2013).

Vorkommen/Epidemiologie

Die funikuläre Spinalerkrankung tritt überwiegend bei Älteren auf (Heckl 2022).

Bei ca. 60 % der Patienten mit perniziöser Anämie treten Symptome einer funikulären Spinalerkrankung auf.

Bei ca. 25 % der Patienten mit laborchemisch nachgewiesenem Vit. B12- Mangel und neurologischen Störungen bestehen keine weiteren hämatologischen Veränderungen. Es besteht interessanterweise zwischen Schwere der hämatologischen und neurologischen Erkrankung eine inverse Korrelation. Bislang ist die Ursache hierfür unbekannt (Gröber 2013).

Folsäuremangel stellt in Westeuropa und Nordamerika den häufigsten Vitaminmangel dar (Ende- Henningsen 2018).

 

Ätiopathogenese

Verursacht wird die funikuläre Spinalerkrankung durch:

- 1. Vitamin B12- Mangel

Zu einem Vit. B12- Mangel kann es durch unzureichende Zufuhr, gestörte Resorption, gestörte Utilisation (z. B. durch Zytostatika, angeborene Störungen im Folsäurestoffwechsel) und durch einen erhöhten Verbrauch kommen (Berlit 2011).

Verursacht werden kann dieser durch z. B.:

- Nahrungsmangel

- Darmerkrankungen einschließlich Fischbandwurmbefall, Pilzbefall des Darms (Hacke 2019)

- Stoffwechselstörungen mit gestörter Vit. B12- Verwertung

- verminderte Produktion von Magensäure (tritt bevorzugt bei Älteren auf)

- Medikamentös bedingt durch z. B. Protonenpumpenhemmer (Gröber 2013), Antikonvulsiva, Biguanide, Hydantoine, kalziumbindende Substanzen, Phenylbutazon, Nitrofurantoin, Zytostatika (Hacke 2019)

- Alkoholabusus (Kasper 2015)

- Anorexia nervosa (Berlit 2011)

- Malabsorption bei z. B. atrophischer Gastritis mit z. B. Mangel an Anti- Intrinsic- Faktor, Autoantikörpern gegen Belegzellen (Parietalzellen) (Wolpert 2015)

- Lachgasmissbrauch (Wolpert 2015)

- Z. n. bariatrischer Operation (Dudorova 2015)

- Z. n. Gastrektomie (Hacke 2019)

 

- 2. Folsäuremangel

Dieser tritt bevorzugt auf bei z. B.:

- Schwangerschaft

- Stillzeit

- chronischen Alkoholikern (Ende- Henningsen 2018)

 

- 3. Kupfermangel (Hacke 2019)

Dieser kann auftreten im Rahmen folgender Erkrankungen:

- Morbus Wilson

- Malnutrition

- Zinküberdosierung

- Menkes-Syndrom

- intestinale Malabsorption (s. Kupfer)

 

Risikogruppen für Vit. B12- Mangel sind:

- Vegetarier und Veganer

- erhöhter Vit. B12- Bedarf wie z. B. bei Autoimmunerkrankungen, HIV- Infizierten, Schwangeren etc.

- chronische Nierenerkrankungen

- Magen- Darm- Erkrankungen

- Langzeittherapie von z. B. Metformin, H2- Blockern, Protonenpumpenhemmern (Gröber 2013)

 

Pathophysiologie

Durch Vit. B12- Mangel kommt es zu einem Verlust der myelinisierten sensorischen (afferenten) Fasern im Rückenmark und im peripheren Nervensystem (Kasper 2015). Hydroxycobalamin spielt dabei eine Rolle. Es ist aber bislang unklar, was letztendlich zur Schädigung der Markscheiden führt (Hacke 2019).

Charakteristischer Weise kommt es als erstes zur Demyelinisierung der Hinterstränge im Rückenmark, im weiteren Verlauf dann zur Demyelinisierung der Seitenstränge (Heckl 2022).

Aufgrund der defekten Myelinscheiden entwickelt sich durch eine kombinierte Degeneration der lateralen und hinteren Funiculi des Rückenmarks eine demyelinisierende Erkrankung (Gröber 2013).

 

Manifestation

- Vit. B12- Mangel:

Vitamin B12 wird zu etwa 90 % in der Leber gespeichert. Symptome treten erst nach einem jahrelangen Mangelzustand auf (Ende- Henningsen 2018).

- Folsäuremangel:

Hierbei treten die Symptome bereits nach ca. 20 Wochen folsäurearmer Ernährung auf (Ende- Henningsen 2018).

Klinisches Bild

Die Patienten klagen zunächst über sensorische Ausfälle mit Balancestörungen, Ataxie, Parästhesien und Schwäche in den Beinen. Die Symptome bilden sich subakut innerhalb weniger Wochen oder Monate aus (Hacke 2019). Erst im fortgeschrittenen Stadium können Spastik und Paraplegie auftreten (Heckl 2022).

Es findet sich immer eine Symmetrie der Symptomatik. I. d. R. sind diese Symptome in den unteren Extremitäten stärker ausgeprägt als in den oberen (Gröber 2013).

 

Bei Markscheidenschwund der Hinterstränge kommt es zu einer Störung der propriozeptiven Wahrnehmung (Heckl 2022) (aus dem Körperinneren stammenden Informationen [Funke 2020]).

Es bestehen:

- Primär eine Verschlechterung des Vibrationsempfindens und des Tastsinns (Heckl 2022)

- Gangunsicherheit

Diese tritt insbesondere bei geschlossenen Augen oder bei Dunkelheit auf (Heckl 2022). Die Patienten schauen typischerweise beim Gehen nach unten (Kasper 2015).

- Spinale Ataxie (Herold 2022)

Diese führt zu unkoordinierten Bewegungen und Gleichgewichtsstörungen (Heckl 2022)

 

Falls die Pyramidenbahn betroffen ist, kann es zu folgenden Symptomen kommen:

- Paresen (Herold 2022)

Die Paresen sind distal betont (Heuß 2019).

- Pyramidenbahnzeichen (Herold 2022)

- Spastik aller Extremitäten

- Blasen- und Darminkontinenz (Heckl 2022)

 

Außerdem können auftreten:

- Polyneuropathie der Extremitäten mit

       - schmerzhaften Parästhesien

       - Kribbeln

       - pelzigem Gefühl

- Areflexie der unteren Extremitäten

- psychotische Symptome (Herold 2022)

- Katatonie

- Depressionen

- demenzielle Symptome (Gröber 2013)

- Ungeschicklichkeit beim Schreiben (Wolpert 2015)

- Augenmuskellähmungen (selten)

- Optikusatrophie (selten)

(Hacke 2019)

 

Zusätzlich können außerdem die typischen Symptome einer Vit. B 12- Anämie bestehen (s.d.)

 

Diagnostik

- Stimmgabelversuch

Der früheste und sensibelste Test zeigt eine Störung der Tiefensensibilität (Herold 2022).

 

- Laboruntersuchungen (s. d.)

 

- Körperliche Untersuchung:

Hierbei können bestehen: Verminderter Positions- und Vibrationssinn, Hypalgesie und Hypästhesien der Extremitäten,. Polyneuropathien (Wolpert 2015).

Die Eigenreflexe können gesteigert, mitunter aber auch nicht auslösbar sein (Hacke 2019).

Es kann eine Hunter- Glossitis bestehen (Schleimhautatrophie im Bereich des oberen Gastrointestinaltraktes mit geröteter Zunge (Hacke 2019).

 

- Lhermitte- Zeichen

Das Lhermitte- Zeichen kann vorhanden sein (spezielle elektrisierende Missempfindungen von Extremitäten und Rumpf bei Beugen des Kopfes).

(Heckl 2022)

 

- Romberg- Zeichen

Hierbei steht der Patient mit eng zusammenstehenden Füßen und geschlossenen Augen. Kommt es zu einem Schwanken bis zur Fallneigung, gilt der Test als positiv (Masuhr 2013).

Ein positiver Romberg kann in einem späten Stadium der Erkrankung als Ausdruck einer sensiblen Ataxie vorhanden sein (Heckl 2022).

 

- Nervenleitgeschwindigkeit

Hierbei zeigt sich eine Verminderung der sensiblen und motorischen Nervenleitgeschwindigkeit (Hacke 2019).

Bildgebung

- Magnetresonanztomographie

Signalsteigerungen der Hinterstränge sind in den T2- gewichteten Sequenzen darstellbar. Das Myelon erscheint teilweise (im frühen Stadium [Ende- Henningsen 2018]) aufgetrieben (Hacke 2019). Im weiteren Verlauf kommt es dann zu einem hyperintensen Signal (Ende- Henningsen 2018) durch die Demyelinisierung der Hinterstränge bzw. der Pyramidenbahn (Herold 2022).

Die Hinterstrangdegeneration der betroffenen Rückenmarksabschnitte stellt sich im Querschnitt im T2- gewichteten Bild als umgekehrt V- förmige Hyperintensität dar (Ende- Henningsen 2018).

 

Labor

- Vit. B12

Die direkte Messung des Vit. B12- Spiegels gilt lediglich als Screening- Verfahren.

Sollte dieser im Serum niedrig normal sein, empfiehlt sich eine zusätzliche Bestimmung von Methylmalonsäure (MMA) und Homocystein mit der Frage eines etwaig bestehenden Vit. B12- Mangels (Heuß 2019).

 

- Methylmalonsäure

Bei normalem Vit. B12- Spiegel sollte Methylmalonsäure bestimmt werden, da in diesem Fall ein metabolischer Mangel an Vit. B12 vorliegen kann (Gröber 2013). Methylmalonsäure ist ein hochsensitiver funktioneller Indikator, der bei einem Vit. B12- Mangel ansteigt (Gröber 2013).

 

- Homocystein

Homocystein stellt neben der Methylmalonsäure einen weiteren Metaboliten dar, der bei normalen Vit. B12- Spiegeln gemessen werden sollte (Heuß 2019).

Der Homocystein- Plasmaspiegel ist i. d. R. erhöht (Wolpert 2015).

 

Falls Methylmalonsäure plus Homocystein im Normbereich liegen, so kann ein Vit. B12- Mangel mit fast 100 % iger Sicherheit ausgeschlossen werden (Gröber 2013).

Bei Patienten mit Niereninsuffizienz können die Werte für Homocystein und Methylmalonsäure allerdings verfälscht sein, deshalb empfiehlt sich hierbei die zusätzliche Bestimmung des aktiven Holotranscobalamin (Hacke 2019).

 

- Holotranscobalamin

Ein erniedrigter Wert gilt als frühester Nachweis einer negativen Vit. B12- Absorptionsbilanz (Heuß 2019).

 

- Hämatologische Veränderungen

Diese können in Form einer makrozytären hyperchromen Anämie und hypersegmentierten Granulozyten auftreten (Hacke 2019), müssen aber nicht vorliegen (Wolpert 2015).

 

- Antikörper

Falls bei dem Patienten autoimmune Syndrome bestehen wie z. B. bei V. a. eine atrophische Gastritis, sollten Antikörper gegen Belegzellen oder Intrinsic- Faktor bestimmt werden (Hacke 2019).

 

- Folsäure / Kupfer

Folsäure und Kupfer sollten ebenfalls bestimmt werden, da ein Mangel ähnliche Symptome verursachen kann bzw. ebenfalls eine degenerative Spinalerkrankung auslösen kann. Zudem ist ein kombinierter Mangelzustand nicht selten (Hacke 2019).

 

Histologie

Histopathologisch kommt es nach einem Ödem in den hinteren und lateralen Bahnen im Rückenmark zu einer multifokalen schwammigen Vakuolisierung. In der Ödemphase kann durch eine entsprechende Substitution der Krankheitsprozess noch aufgehalten werden (Heckl 2022).

Differentialdiagnose

- Chronisch progressive, spinal betonte Erscheinungsform der multiplen Sklerose

- subakut verlaufende Formen der Myelitis wie z. B. bei der Sarkoidose, zervikale Myelopathie, HIV- Myelopathie und Lupus erythematodes

- infektiöse Myelitiden wie z. B. durch Erreger der Herpesgruppe

- spinale Form der Meningeosis carcinomatosa

- paraneoplastische Myelopathien (Ende- Henningsen 2018)

 

- Krankheitsbilder, bei denen neben dem spinalen Erscheinungsbild zusätzlich eine Polyneuropathie besteht wie z. B. bei

- AIDS- assoziierte Myelopathien

- paraneoplastischen Syndromen

- Spätstadium einer Borreliose

- Lupus erythematodes (Ende- Henningsen 2018)

 

Bei der durch Kupfermangel- assoziierten Myelopathie ist differentialdiagnostisch auszuschließen die:

- funikuläre Myelose (Ende- Henningsen 2018).

 

 

Therapie

- Vitamin B12- Mangel:

Die kausale Therapie besteht in Beseitigung der Fehlernährung und Alkoholabstinenz, sofern dies vorliegt (Herold 2022).

Selbst wenn die Laborbefunde nicht auf einen Vit. B12- Mangel hinweisen, sollte bei entsprechender Symptomatik ein Therapieversuch mit den u. g. Präparaten versucht werden (Hacke 2019).

Die Therapie besteht in Behandlung mit z. B. Cyanocobalamin (Vit. B12) oder 2 aktiven Coenzymformen: Methylcobalamin bzw. Adenosylcobalamin.

Die aktiven Coenzymformen haben unterschiedliche metabolische Funktionen (Methylcobalamin ist zusammen mit Folsäure an der Blutbildung und der kindlichen Gehirnentwicklung beteiligt, Adenosylcobalamin ist wichtig für den Kohlenhydrat-. Fett- und Aminosäurestoffwechsel sowie die Myelinisierung). Diese beiden Präparate sollten deshalb in Kombination gegeben werden (Thakkar2015).

 

Bei Mangelzuständen durch Mangelernährung liegt die tägliche Dosis zwischen 10 – 100 µg bis zur Normalisierung des Spiegels. Bei Darmerkrankungen, Malabsorption oder Verwertungsstörungen sind höhere Dosen erforderlich (Gröber 2013).

In der Praxis wird die Therapie überwiegend parenteral verabreicht.

Dosierungsempfehlung: Initial 1.000 µg / Woche i. m. oder s. c. bis sich das Blutbild normalisiert hat. Anschließend sollte eine lebenslange Substitution von 1.000 µg i. m. oder s. c. alle 1 – 3 Monate erfolgen (Herold 2022).

Eine randomisierte kontrollierte Studie von Butler (2006) zeigte, dass die orale Gabe die gleiche Wirksamkeit haben kann. Herold (2022) hingegen weisst darauf hin, dass bei einer oralen Substitution lediglich 1 % resorbiert wird.

 

- Folsäuremangel:

Die kausale Therapie besteht ebenfalls in Beseitigung der Fehlernährung und Alkoholabstinenz (Herold 2022).

Im akuten Erkrankungsstadium sollte dem Patienten in den ersten 3 – 5 Tagen 15 mg Folsäure / d i. m. verabreicht werden, anschließend 2 – 3 x 5 mg / d oral oder 10 – 15 mg i. m. für die anschließenden 2 – 3 Wochen. Danach sind die Speicher wieder gefüllt (Ende- Henningsen 2018).

Die Erhaltungsmedikation liegt bei 5 mg Folsäure / d oral (Herold 2022).

Verlauf/Prognose

Im Frühstadium sind neurologische Symptome des Vit. B12- Mangels noch reversibel, nach erfolgter axonaler Degeneration sind diese jedoch irreversibel (Herold 2022). Bei ca. 50 % der Patienten bleiben deshalb Residualsymptome zurück (Berlit 2011).

Die Substitutionstherapie ist in den meisten Fällen lebenslang erforderlich (Berlit 2011).

 

Hinweis(e)

Bei unklaren neurologischen Störungen sollte – selbst bei nicht bestehender Anämie – immer an einen Vit. B12- Mangel gedacht werden (Herold 2022).

Eine adjuvante Vit. B12- Gabe wird insbesondere älteren Menschen, Patienten mit neurologischen Erkrankungen und Patienten unter Langzeitmedikation zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit und zur Verringerung des Risikos einer Hirnatrophie empfohlen (Gröber 2013).

Zu Beginn der Substitutionstherapie kann es in seltenen Fällen (ca. 2 %) zu einer initialen Verschlechterung der neurologischen Symptomatik kommen. Diese ist aber immer vorübergehender (1 – 4 Wochen) Natur. Falls sich jedoch nach 3 Monaten keine Verbesserung der Symptomatik einstellt, sollte die Diagnose überprüft werden (Berlit 2011).

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

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