NephrolithiasisN20.0
Synonym(e)
Erstbeschreiber
Die Erstbeschreibung eines mit dem Urin ausgeschiedenen Zystinsteines erfolgte 1810 durch Wollaston (Hoffmann 2014). Im Jahre 1817 hat Marcet als Erster einen Nierenstein chemisch untersucht. Dieser bestand aus reinem Xanthin (Opitz 1965). Die extrakorporale Stoßwellenlithotripsie der Harnwege wurde von Chaussy 1980 in München entwickelt (Kramme 2007).
Definition
Unter einer Nephrolithiasis versteht man sowohl die Bildung als auch das Vorkommen von Steinen im Hohlsystem der Niere und den ableitenden Harnwegen. Der Begriff „Urolithiasis“ wird (je nach Fachgebiet) synonym benutzt (Kuhlmann 2015).
Einteilung
Je nach Lokalisation der Steine differenziert man zwischen:
- Nephrolithiasis (in der Niere)
- Ureterolithiasis (im Harnleiter)
- Urethralithiasis (in der Harnröhre)
- Zystolithiasis (in der Harnblase)
Bei den Arten von Steinen unterscheidet man:
- Kalziumoxalat (70 % - 80 %, schattengebend)
- Uratsteine (10 % - 15 %, nicht schattengebend)
- Infektsteine (5 % - 10 %, schwach schattengebend):
- z. B. Struvite
- Kalziumphosphat, Carbonatapatit < 5 % (beide schattengebend)
- seltene Steine < 1 % (nicht schattengebend) (Seitz 2018)
- Zystinsteine (schwach schattengebend (Sigel 1993)
Vorkommen/Epidemiologie
Die Prävalenz der Nephrolithiasis liegt zwischen 5 % (z. B. in Deutschland) und 15 % in Ländern mit heißem, trockenem Klima (sog. „Harnsteingürtel der Erde“). Sie ist in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen. Das männliche Geschlecht ist etwas öfter als das weibliche Geschlecht betroffen (1,3 : 1)
Die Inzidenz nimmt mit dem Alter wieder ab (Kasper 2015). Das Rezidivrisiko liegt unbehandelt bei insgesamt 50 %, ist aber stark abhängig von der jeweiligen Steinart (Kuhlmann 2015).
Prädisponierende Erkrankungen:
- gastrointestinale Malabsorptionsstörung wie z. B. Morbus Crohn, Bypass- OP des Magens etc.)
- primärer Hyperparathyreoidismus
- Adipositas
- Diabetes mellitus Typ 2
- Gicht
- arterielle Hypertonie
- chronische Nierenerkrankungen (Kasper 2015)
- metabolisches Syndrom
- Nephrokalzinose
- polyzystische Nierenerkrankungen
- Sarkoidose
- neurogene Blase (bei Rückenmarksverletzungen) (Seitz 2018)
Durch das Auftreten von Nierensteinen verdoppelt sich das Risiko, eine chronische Nierenerkrankung zu entwickeln (Kuhlmann 2015).
Ätiopathogenese
Hinsichtlich der Ätiologie der Steinbildung unterteilt man die Lithiasis in folgende Gruppen:
- nicht infektionsbedingte Steine (z. B. Kalziumoxalatsteine, Kalziumphosphatsteine, Harnsäuresteine)
- infektionsbedingte Steine (z. B. Struvite, Uratsteine)
- genetisch bedingte Steine (z. B. Zystinsteine, Xanthinsteine etc.)
- durch Medikamente ausgelöste Steinbildung (z. B. durch Sulfonamide)(Kuhlmann 2015)
- Stoffwechselfaktoren:
- vermehrte Ausscheidung lithogener Substanzen bei:
- Hyperkalziurie bei Hyperkalzämie (z. B. bei primärem Hyperthyreoidismus, Vit.- D- Überdosierung, Immobilisation etc.)
- idiopathische Hyperkalziurie (Auftreten einer Hyperkalziurie bei normalem Serumkalzium)
- Hyperoxalurie (z. B. genetisch bedingt oder durch kalziumarme bzw. oxalatreiche Ernährung, entzündliche Darmerkrankungen etc. [Schmelz 2006])
- Hyperphosphaturie
- Hyperurikosurie bei Hyperurikämie
- Zystinurie (es handelt sich um eine autosomal- rezessive Stoffwechselerkrankung [Hoffmann 2014], bei der im proximalen Tubulus eine gestörte Rückresorption vorliegt)
- verminderte Ausscheidung lithogener Substanzen bei:
- Hypomagnesiurie
- Hypocitraturie (z. B. bei distaler renaler tubulärer Azidose, hohe Natrium- und Eiweißeinnahme etc. [Wehling 2011])
- kritischer Urin pH von < 6,0 und > 7,0
- sehr hohe Harnkonzentration (spezifisches Gewicht ≥ 1.010 g / l (Herold 2020)
- die Lithiasis unterstützende Faktoren wie z. B.:
- Adipositas
- Harnabflussstörung durch anatomische oder funktionelle Veränderungen
- Harnwegsinfektionen
- eiweißreiche Kost
- Durst
- Gewichtsreduktion (Herold 2020)
Eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Nierensteinen spielt der Harnwegsinfekt. Gramnegative Bakterien (außer E. coli) spalten den Harnstoff in NH3 und CO2 und erhöhen dadurch den pH- Wert des Urins, was zu einer Änderung der Ionenlöslichkeit führt. Nephrolithiasis und Harnwegsinfekt begünstigen sich gegenseitig.
Pathophysiologie
Die Pathogenese ist bislang noch nicht vollständig geklärt. Die Steinbildung erfolgt intrarenal in den Tubuli. Die Steine bestehen zu 95 % aus kristalliner Substanz und zu 5 % aus organischer Matrix ( Schmelz 2006).
Jüngste Studien haben gezeigt, dass bei Patienten mit Lithiasis Calciumphosphat im Niereninterstitium vorhanden ist. Man vermutet, dass sich dieses Calciumphosphat bis hin zur Papille erstreckt und so den Calciumoxalat- bzw. Calciumphosphatkristallen eine Möglichkeit zur Ablagerung bietet (Kasper 2015).
Für die Steinbildung sind von Bedeutung:
- Übersättigung des Urins mit lithogenen Substanzen (diese führen zur Kristallisation)
- Mangel an inhibitorischen Substanzen
- Interaktion der Kristalle mit dem Tubulusepithel (beim geschädigten Urothel ist diese Interaktion leichter möglich) (Kuhlmann 2015)
Bei Kalziumsteinen spielt der pH- Wert eine große Rolle. Bei einem niedrigen pH- Wert bilden sich Kalziumoxalatsteine, bei einem hohen pH Kalziumphosphatsteine (Kuhlmann 2015).
Pathophysiologie einer Kolik:
Zu einer Kolik kommt es, wenn ein in der Niere gebildeter Stein sich mobilisiert und eine Obstruktion verursacht. Der Schmerz entsteht durch die Zunahme der Wandspannung und die Druckerhöhung proximal der Blockade und nicht, wie früher angenommen, durch eine Hyperperistaltik der glatten Muskulatur des Ureters (Ellinger 2011).
Manifestation
Der Häufigkeitsgipfel liegt zwischen dem 30 – 40. Lebensjahr.
Klinisches Bild
Klinisch symptomatisch wird eine Nephrolithiasis erst dann, wenn der Stein eine physiologische Enge passiert (wie z. B. den Ausgang des Nierenbeckens, die Gefäßkreuzung des Ureters oder das Ureterostium) bzw. sich an einer Stelle der ableitenden Harnwege obstruierend festsetzt.
Die Symptome sind dann:
- Koliken
- Hämaturie (Kuhlmann 2015)
Die erste Kolik tritt i. d. R. im Erwachsenenalter auf. Der Verlauf ist bei 75 % der Betroffenen unkompliziert.
Nierenbeckenausgusssteine: Sie sind zunächst asymptomatisch und bewirken auch keinen Harnstau. Symptomatisch werden diese meistens erst durch eine Pyelonephritis (Kuhlmann 2015).
Parenchymsteine, Nierenbecken- und Kelchsteine: Hierbei bestehen im Regelfall keine Symptome. Die Lithiasis wird häufig als Zufallsbefund bei einer bildgebenden Diagnostik erkannt (Kuhlmann 2015).
Im Rahmen einer Nierenkolik kann es zu folgenden Symptomen kommen:
- plötzlich einsetzende stärkste auf- und abschwellende Schmerzen im Bereich der Flanke mit Ausstrahlung:
- in den Oberbauch oder Rücken bei Obstruktion im proximalen Teil des Ureters
- in den Mittel- und Unterbauch bei Obstruktion am Beckenübergang des Ureters
- in die Leiste, den ipsilateralen Hoden bzw. die ipsilateralen Schamlippen bei Obstruktion im unteren Bereich des Ureters
- Hämaturie: bei 90 % besteht eine Mikrohämaturie, eine Makrohämaturie findet sich bei 1 / 3 der Fälle
- Dysurie
- Blasentenesmen
- motorische Unruhe des Patienten (typisches Symptom)
- Übelkeit
- Erbrechen
- reflektorischer Subileus mit Stuhl- und Windverhalt (Kasper 2015 / Herold 2020)
Diagnostik
Mit Hilfe des Stone- Score lässt sich die Wahrscheinlichkeit für eine Nierenkolik berechnen:
- Sex: männlich (2 Punkte)
- Timing: kurze Dauer der Schmerzen (> 24 h: 0 Punkte, 6 – 24 h: 1 Punkt, < 6 h: 3 Punkte)
- Origin: kein Farbiger (Farbiger: 0 Punkte, kein Farbiger: 3 Punkte)
- Nausea: es bestehen Übelkeit bzw. Erbrechen (nur Übelkeit: 1, nur Erbrechen: 2)
- Erythrozyturia: (Mikrohämaturie: 3 Punkte)
Auswertung:
- geringe Wahrscheinlichkeit bei 0 – 5 Punkten
- moderate Wahrscheinlichkeit bei 6 – 9 Punkten
- hohe Wahrscheinlichkeit bei 10 – 13 Punkten (Moore 2014)
Inspektion und Palpation
- einseitig klopfschmerzhaftes Nierenlager
- Abdomen gebläht
- keine Peritonitiszeichen
- arterielle Hypotonie (bei Urosepsis) (Ellinger 2011)
Bildgebung
Abdomenübersichtsaufnahme: Bei der Abdomenübersichtsaufnahme können ausschließlich schattengebende Konkremente dargestellt werden. Sie kann im Rahmen der Therapiekontrolle bzw. der Nachsorge sinnvoll sein. Die Sensitivität liegt bei 44 % - 77 %, die Spezifität bei 80 % - 87 %. (Seitz 2018)
Sonographie: Der Ultraschall stellt die erste Wahl sowohl in der Akutsituation als auch bei der Routineuntersuchung dar (Seitz 2018).
- Nachweis eines Konkrementes (kleine Steine sind mitunter im Ultraschall nicht darstellbar)
- Nierenstauung
- Ektasie des Nierenbeckens (Herold 2020)
Computertomographie: Die CT kann als low- dose- CT ohne Kontrastmittel eingesetzt werden, sofern bei der Sonographie kein Konkrement nachweisbar ist und auch beim Auftreten von Komplikationen. Die CT liefert außerdem Informationen zur Steinzusammensetzung und zu etwaigen Entzündungsreaktionen (Kuhlmann 2015). Die Sensitivität und die Spezifität liegen bei fast 99 % (Herold 2020).
Urographie mit Abdomenleeraufnahme: Sofern Sonographie bzw. CT nicht verfügbar sind, kann eine Urographie erfolgen . Die Sensitivität beträgt 51 % - 87 %, die Spezifität 92 % - 100 % (Seitz 2018).
i. v. Pyelogramm: Heutzutage ist ein i. v. Pyelogramm in der Akutsituation als obsolet anzusehen (Gefahr der Fornixruptur, Nephrotoxizität, Allergie etc.) (Kuhlmann 2015).
Nierenszintigraphie: Die Nierenszintigraphie kann ergänzende Informationen bei bestehender chronischer Stauung geben und ist mitunter vor der OP- Planung sinnvoll. Bei der Untersuchung besteht zusätzlich die Möglichkeit der seitengetrennten Beurteilung der Nierenfunktion (Schmelz 2006). In der primären Diagnostik einer Lithiasis spielt die Nierenszintigraphie jedoch kaum eine Rolle. (Seitz 2018)
Labor
Urinuntersuchung:
- Urinteststreifen
- Mikro- oder Makrohämaturie
- Leukozyturie
- Nitrit
- Protein
- Glukose
- Sediment (Bakterien, Kristalle)
- Anlegen einer Kultur zur Keimdifferenzierung und Anlegen eines Antibiogramms
- 24h- Sammelurin:
- Harnsäure (bei Uratsteinen erhöht)
- Kalzium (bei primärem Hyperparathyreoidismus erhöht)
- Oxalat
- Zystin
- Phosphat
- Dihydroxyadenin (DHA) bei Kindern (Schmelz 2006)
- Blutgasanalyse
- kleines Blutbild
- Elektrolyte
- CRP
- Kreatinin
- Harnstoff
- Harnsäure
- PTT und INR bei wahrscheinlicher Intervention (Seitz 2018)
- Analyse abgegangener Konkremente
Differentialdiagnose
Die Differentialdiagnosen sind vielfältig.
- Nierenerkrankungen:
- Tumoren im Bereich der ableitenden Harnwege und der Nieren (Sonographie)
- ureterale Obstruktionen durch z. B. Blutgerinnsel, Strukturen (Sonographie)
- Niereninfarkt (tritt am häufigsten bei Patienten mit Vorhofflimmern auf; es bestehen laborchemiscch eine Hämaturie, Proteinurie, sehr hohe LDL bei allenfalls geringen Veränderungen von GOT und AP; Diagnose durch Farbdopplersonographie)
- Papillennekrose durch z. B. eine Analgetikanephropathie (im Urogramm ist der Papillendefekt darstellbar)
- Nierenvenenthrombose (Proteinurie, bei linksseitiger Thrombose venöse Stauung des linksseitigen Hodens bei Männern; Diagnose durch Farbdopplersonographie)
- Nierenabszess (Diagnose durch CT [Ellinger 2011])
- Pyelonephritis (hohes Fieber, Diagnose durch Ultraschall, CT / MRT [Ellinger 2011 / Schmelz 2007])
- extrarenale Erkrankungen:
- Appendizitis (meistens schleichender Beginn, Druckschmerz McBurney- Punkt, Temperaturdifferenz zwischen rektal, axillär)
- stielgedrehte Ovarialzyste (Sonographie, gynäkologische Untersuchung)
- Extrauteringravidität (Beta- HCG im Urin erhöht, Sonographie, gynäkologische Untersuchung)
- Adnexitis (Sonographie, gynäkologische Untersuchung)
- Hodentorsion (die Diagnose muss innerhalb von 6 h gestellt sein, da ansonsten ein Hodenverlust droht; Diagnose durch Farbdoppler)
- Gallenkolik (Schmerzausstrahlung in die rechte Schulter, Sonographie)
- Pankreatitis (Amylase und Lipase erhöht, Abdomen weich)
- Ruptur eines Bauchaortenaneurysmas (Ultraschall, CT- Angio [Debus 2018])
- Ileus (beim mechanischen: auskultatorisch keine Darmgeräusche, eventuelle Bruchpforten ausschließen, Abdomen- Sonographie bzw. Abdomen- Röntgenaufnahme)
- chronisch entzündliche Darmerkrankungen (Anamnese)
- Mesenterialinfarkt [Kuhlmann 2015] (Alter, Serumlaktat erhöht, Blut bei der rektalen Untersuchung am Fingerling, Diagnose durch biphasische Kontrastmittel- CT)
- Divertikulitis (Anamnese, abdomineller Tastbefund)
- LWS- Syndrom
- lumbaler Herpes zoster
Komplikation(en)
-
Harnwegsinfektion (HWI), da diese zur Urosepsis führen kann. Beim HWI handelt es sich um die wichtigste und auch häufigste Komplikation (Herold 2020). Frühsymptome einer Urosepsis sind:
- Tachypnoe (> 20 Atemzüge / min)
- Tachykardie (> 90 Schläge / min)
- Hyperthermie (> 38 ° C)
- Hypothermie (< 36 ° C, in Abwechslung mit Fieberschüben)
Harnwegsinfekt mit Ureterstenose
- Fornixruptur durch Drucksteigerung im Nierenbeckenkelchsystem (Schmelz 2006)
Therapie
Bis zu 90 % der Harnleitersteine < 5 mm gehen spontan ab (Herold 2020) und bedürfen keiner Therapie. Sollte es jedoch zu einer Kolik kommen, sind unterschiedliche therapeutische Maßnahmen möglich:
1. Schmerztherapie: Bei einer akuten Kolik steht die analgetische Behandlung im Vordergrund. Hierzu eignen sich:
- Metamizol: 1 g – 2 g i. v. ist das Mittel der 1. Wahl, da es zusätzlich eine spasmolytische und antinozizeptive Wirkung auf den Harnleiter hat
- Paracetamol: 1 g i. v.
- Diclofenac: 75 mg / kg KG i. v.
- Morphin: 0,1 mg / kg KG i. v. (Seitz 2018)
Bei einer geplanten extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie (ESWL) ist ASS wegen der Gefahr eines Nierenhämatoms kontraindiziert (Herold 2020). In einer randomisierten Studie zeigte sich die Kombination von Paracetamol und Diclofenac zur Schmerzbekämpfung der Gabe von Morphin überlegen (Seitz 2018).
2. Harnableitung: Die Indikation zur Harnableitung ist gegeben bei:
- hochgradiger Obstruktion mit konsekutiver Harnstauungsniere
- steigenden Retentionswerten (Hinweis auf ein postrenales Nierenversagen)
- medikamentös nicht beherrschbaren Koliken
Patienten, die einen Harnstau und Infektionszeichen aufweisen, sind ein medizinischer Notfall, bei dem eine sofortige Entlastung durch Ureterschienung oder perkutane Nephrostomie plus einer Antibiose (entsprechend dem Antibiogramm) erfolgen muss (Kuhlmann 2015). Durchführung:
- transurethrale Einlage einer DJ- Harnleiterschiene
- perkutane Nephrostomie
Beide Verfahren sind hinsichtlich der Harnableitung als gleichwertig anzusehen. Eventuelle Beschwerden der Harnleiterschiene können mit einem Alphablocker gesenkt werden (Seitz 2018). Dosierungsempfehlung: z. B. Tamsulosin 1 x 0,4 mg / d (Truß 2005)
3. Endourologische Eingriffe zur Steinentfernung: Vor einem Eingriff muss geklärt werden:
- Besteht ein Harnwegsinfekt? Falls ja, ist umgehend die Einleitung einer Antibiose entsprechend dem Antibiogramm erforderlich.
- Absetzen einer eventuell bestehenden Antikoagulation. Falls die Low- dose- Behandlung mit ASS nicht unterbrochen werden kann, ist es möglich, diese nach Risikoabwägung für eine Ureterorenoskopie (URS) fortzusetzen (Seitz 2018).
Für den endourologischen Eingriff stehen die Ureterorenoskopie (URS), die extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (ESWL), die perkutane Nephrolithotomie (PCNL), laparoskopische bzw. offene Verfahren und die Chemolitholyse zur Verfügung (Seitz 2018). Indikationen für eine interventionelle Therapie sind:
- Obstruktion mit Anurie
- Obstruktion mit bestehendem fieberhaften Harnwegsinfekt
- Obstruktion einer Einzelniere
- Obstruktion bei Z. n. Nierentransplantation
- bilaterale Obstruktion
- Steingröße ≥ 5 mm
- unkontrollierbare Schmerzen
3.1. Ureterorenoskopie (URS): Es stehen für die Ureterorenoskopie Ultraschall-, Laser-, pneumatische und elektrohydraulische Lithotripsie sowie Körbchen und Zangen zur Verfügung (Herold 2020). Indikationen:
- im proximalen Harnleiter:
- Konkremente > 10 mm (gleichwertig zur ESWL)
- Konkremente ≤ 10 mm (2. Empfehlung)
- im mittleren und distalen Harnleiter:
- Konkremente (1. Empfehlung) (Seitz 2018)
Komplikationen:
- Fieber
- persistierende Hämaturie
- Nierenkolik
- Ureterperforation (2 % - 4 %)
- Ureterabriss (< 1%)
- Verletzung der Uretermukosa
- postinterventionell auftretende Harnleiterstrikturen (1 % - 3 %) (Kuhlmann 2015)
Schwerwiegende Komplikationen sind nur selten, sie treten bei < 1 % (Seitz 2018). Die Erfolgsrate ist abhängig von der Lage der Steine:
- proximale Harnleitersteine: 60 % - 90 %
- distale Harnleitersteine: 90 % - 100 %
- Nierenbeckensteine: 60 % - 90 % (Schmelz 2006)
3.2. Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (ESWL): Voraussetzung für eine ESWL ist die sonographische oder radiologische Ortung des Konkrementes. Vor Beginn der Behandlung sollte ggf. (Seitz 2018) eine innere Harnschiene (Splint) eingelegt werden, damit die Steinfragmente schmerzlos den Harnleiter passieren können (Herold 2020). Ein etwaig bestehender Harnwegsinfekt muss vor Therapiebeginn antibiotisch abgedeckt sein. Eine ausreichende Analgesie sollte während der gesamten Dauer der ESWL gewährleistet sein (Seitz 2018).
Indikationen sind:
- Pyelon- und Kelchsteine von 5 mm – 20 mm
- im proximalen Harnleiter
- Konkremente > 10 mm (gleichwertig zur URS)
- Konkremente von ≤ 10 mm (1. Empfehlung)
- im mittleren und distalen Harnleiter
- Konkremente (2. Empfehlung) (Seitz 2018)
Kontraindikationen sind:
- bestehende Antikoagulation (die Behandlung ASS kann u. U. bei sorgfältiger Indikationsprüfung fortgeführt werden)
- Gerinnungsstörung
- nicht behandelte Harnwegsinfekte
- Schwangerschaft
- Aneurysma in der Fokuszone
- schwere Nephrokalzinose
- Obstruktion distal des Steines
- Pankreatitis
- nicht eingestellte arterielle Hypertonie (Seitz 2018)
Komplikationen können sein:
- Hautsuffusion
- subkapsuläres Nierenhämatom
- durch Restfragmente verursachte Koliken und Stauungen
Die Komplikationsrate (z. B. Hämatome, Sepsis etc.) ist gering (Seitz 2018). Die Erfolgsrate liegt bei 90 %.
3.3. Perkutane Nephrolithotomie (PCNL)
Die PCNL ist die Therapie der Wahl bei Nierensteinen > 2 cm bzw. bei Steinen in der unteren Kelchgruppe von > 1,5 cm. Auch hierbei ist ein bestehender HWI präoperativ entsprechend dem Antibiogramm zu behandeln und bei allen Patienten eine perioperative Antibiose durchzuführen (Seitz 2018). Kontraindikationen:
- bestehende Antikoagulation
- unbehandelter HWI
- Schwangerschaft
- atypische Koloninterposition (Seitz 2018)
Komplikationen (z. B. Fieber, Perforation anliegender Organe, Blutung etc.) treten selten auf (Seitz 2018). Die Erfolgsrate liegt zwischen 71 % -89 %, je nach Steingröße und Lokalisation. Knapp 90 % der Patienten mit Nierenbeckensteinen und > 90 % mit unteren Kelchsteinen sind nach 3 Monaten steinfrei (Schmelz 2006).
3.4. Chemolitholyse: Eine Chemolitholyse sollte ausschließlich als Erstlinien- Therapie bei Harnsäuresteinen eingesetzt werden. Der pH des Urins wird dabei mittels Natriumbikarbonat oder Kaliumcitrat (Kuhlmann 2015) auf einen wert zwischen 7,0 – 7,2 adjustiert. Parallel dazu erfolgt eine Behandlung mit Allopurinol (z. B. 300 mg / d). Eine längerfristige Chemolitholyse ist wegen des Risikos einer Kalziumphosphatsteinbildung zu vermeiden (Seitz 2018).
3.5. Laparoskopische bzw. offene Verfahren: Heutzutage werden laparoskopische oder offene Verfahren nur noch in Ausnahmefällen angewandt, z. B. bei zusätzlich bestehenden anatomischen Veränderungen, die der Korrektur bedürfen oder bei sehr großen Nieren- bzw. Harnleitersteinen (Seitz 2018).
Vorgehen bei Harnleitersteinen: Bei einer Steingröße < 5 mm (Herold 2020) sollte – unter regelmäßiger Kontrolle der Körpertemperatur und des Urins – der Spontanabgang abgewartet werden. In ca. 90 % gehen diese Steine spontan ab (Herold 2020). Der Spontanabgang ist allerdings abhängig von der Lage der Steine:
- proximaler Harnleiter: 25 %
- mittlerer Harnleiter: 45 %
- distaler Harnleiter: > 70 % (Schmelz 2006)
Durch eine medikamentöse expulsive Therapie (MET) mit Alphablockern und Kalziumkanalblockern kann die Ausscheidungsrate erhöht und die Geschwindigkeit des Steinabgangs beschleunigt werden. (Seitz 2018) Dosierungsempfehlung: z. B. Tamsulosin 1 x 0,4 mg / d (Truß 2005) oder Nifedipin 40 mg – 60 mg / d (Kuhlmann 2015). Unterstützend wirken dabei außerdem:
- viel trinken
- lokale Applikation von Wärme
- Bewegung (Herold 2020)
Falls Fieber und / oder eine Anurie auftreten, sollte der Patient unverzüglich einer stationären Behandlung zugeführt werden (Herold 2020).
Vorgehen bei Nierenbeckensteinen: Bei kleineren Nierenbecken- (Kelch-) steinen kann - je nach Lage - zunächst unter ständiger Beobachtung abgewartet werden. Konkremente > 20 mm Durchmesser sollten mit der EKWL behandelt werden, da diese der URS in diesem Fall überlegen ist.
Verlauf/Prognose
Insgesamt hat die Nephrolithiasis eine gute Prognose. Bis zu 90 % der Konkremente gehen spontan ab (Herold 2020).
Das Rezidivrisiko lässt sich durch eine entsprechende Metaphylaxe auf < 15 % senken (Kuhlmann 2015).
Prophylaxe
Die Metaphylaxe umfasst präventive Maßnahmen, die eine erneute Nierensteinentwicklung verhindern sollen (Kuhlmann 2015). Die Grundlage für die Metaphylaxe bildet die Analyse der Harnsteinzusammensetzung, die bei jedem Nierenstein erfolgen sollte (Seitz 2018). Man unterteilt die Metaphylaxe in allgemeine Maßnahmen für Patienten der Niedriggruppe und in eine spezielle Metaphylaxe für Hochrisikogruppen ein (Herold 2020)
Für alle Harnsteinbilder gilt:
- Erhöhung der Trinkmenge bis auf eine Urinvolumen von mindestens 2 l
- zirkadianes Trinken
- Apfel- und Grapefruitsaft meiden
- Harndichte < 1,010 kg / l
- ballaststoffreiche, ausgewogene (mediterrane) Ernährung
- Kaliumzufuhr 1 – 1,2 g / d
- Proteinbegrenzung auf 0,8 – 1,0 g / kg KG / d
- Kochsalzzufuhr < 6 g / d
- Regulierung des Körpergewichtes
- adäquate körperliche Bewegung
- Stressbegrenzung (Herold 2020 / Kasper 2015 / Kuhlmann 2015 / Schmelz 2006)
Zur Hochrisikogruppe zählen:
- frühes Auftreten einer Lithiasis (bereits im Kindesalter)
- familiäre Steinformation
- Einzelniere
- bestimmte Steine wie:
- brushithaltige
- harnsäurehaltige
- Infektsteine (Seitz 2018)
Zu den o. g. Maßnahmen können auch – je nach Steinart – bestimmte Verhaltensregeln bzw. Medikamente ein Rezidiv verhindern.
Kalziumhaltige Steine: Kalziumoxalatsteine bilden sich bei azidem Urin, Kalziumphosphatsteine bei alkalischem Urin (Kuhlmann 2015).
Man differenziert bei der Hyperkalziurie zwischen:
- absorptiver Hyperkalziurie (entsteht durch eine gesteigerte enterale Resorption)
- resorptiver Hyperkalziurie (ist Folge einer gesteigerten Mobilisation von Kalzium aus den Knochen bei z. B. M. Bechterew, Immobilisation, Osteoporose etc.)
Medikamentös lässt sich der Kalziumgehalt des Urins durch ein Thiaziddiuretikum senken. Das häufig verwendete Hydrochlorothiazid (HCT) kann – laut neuester Daten – bei Langzeitanwendung die Gefahr für den weißen Hautkrebs erhöhen. Deshalb werden in der Leitlinie
- Chlortalidon (Dosierungsempfehlung z. B. Hygroton 12,5 mg – 25 mg / d [Lemmer 2007]) oder
- Indapamid (Dosierungsempfehlung z. B. INDA- Puren 1,5 mg – 2,5 mg / d [Lemmer 2007]) empfohlen (Kuhlmann 2015).
Patienten sollten die von Ernährungswissenschaftlern empfohlene Kalziumzufuhr von 1 – 1,2 mg / d nicht reduzieren. Das gilt insbesondere auch für die an Osteoporose erkrankten Patienten. Es hat sich gezeigt, dass bei kalziumreduzierter Ernährung die Harnsteininzidenz sogar zunimmt (Herold 2020).
Reine Harnsäuresteine: Der pH- Wert im Urin ist bei reinen Harnsäuresteinen hoch (> 6,5). Durch diätetische Maßnahmen wie z. B. Vermeidung purinhaltiger Speisen (z. B. Innereien, Bohnen, Erbsen, Spargel, Spinat etc.), durch Proteinrestriktion etc. lässt sich der Urin neutralisieren.
Medikamentös kann der pH- Wert des Urins durch Kaliumcitrat (Dosierungsempfehlung: 3 g – 5 g / d) gesenkt werden.
Bei Persistieren der Hyperurikosurie und Gicht sollte außerdem noch Allopurinol 300 mg / d gegeben werden (Kuhlmann 2015).
- Ammonium- Uratsteine: Es gibt bei Ammonium- Uratsteinen mehrere Ansatzpunkte :
1. Bei erneut auftretenden Infekten umgehende antibiotische Behandlung entsprechend dem Antibiogramm.
2. Medikamentöse Ansäuerung des Urins mit L- Methionin (Dosierungsempfehlung: 500 mg 2 – 3 x / d) auf pH- Werte zwischen 5,8 – 6,2.
3. Medikamentöse Senkung der Harnsäurespiegel im Blut und / oder im Urin durch Allopurinol. Dosierungsempfehlung: 100 mg - 300 mg / d.
(Seitz 2018)
Oxalatsteine: Das Meiden oxalathaltiger Speisen (wie z. B. Spinat, Kakao, rote Beete, Rhabarber, Nüsse, Petersilie, dunkle Schokolade) hilft nur bedingt, da im Intermediärstoffwechsel Oxalat anfällt (Herold 2020).
Die Aufnahme von Magnesium sollte deshalb bei 200 mg – 400 mg / d (Tagesbedarf ca. 300 mg – 400 mg [Herold 2020]) und von Kalzium bei > 500 mg / d (Tagesbedarf ca. 1.000 mg [Herold 2020]) liegen. Medikamentös kann man behandeln
- bei Werten zwischen 0,5 – 1 mmol / d mit Alkalizitrat: Dosierungsempfehlung: 9 – 12 mg / d
- bei Werten von > 1 mmol / d mit Pyrodoxin initial 5 mg / kg KG / d (Seitz 2018).
Phosphatsteine: Bei Phosphatsteinen sollten immer aufgeschlossen werden:
- Hyperparathyreoidismus (Herold 2020)
- primäre Hyperoxalurie
- sekundäre oder enterale Hyperoxalurie
- renal- tubuläre Azidose (RTA) (Seitz 2018)
Infektsteine: Infektsteine entstehen in erster Linie durch Harnwegsinfekte mit urasebildenden Bakterien (Kuhlmann 2015). Bei Auftreten eines Harnwegsinfektes sollte deshalb umgehend eine gezielte Antibiose nach Antibiogramm erfolgen (Herold 2020).
Aber auch durch einen alkalischen Urin kann es zum Auftreten von Infektsteinen kommen (Kuhlmann 2015). Zur Ansäuerung des Urins kann man den Patienten anhalten, vermehrt Apfelsaft oder Preiselbeersaft zu trinken (Herold 2020) oder medikamentös Methionin (Dosierungsempfehlung: 500 mg 2 – 3 x / d) einsetzen (Kuhlmann 2015).
Literatur
- Debus E S et al. (2018) S3-Leitlinie zu Screening, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Bauchaortenaneurysmas. AWMF-Registernummer 004-14
- Ellinger K et al. (2011) Kursbuch Notfallmedizin: orientiert am bundeseinheitlichen Curriculum Zusatzbezeichnung Notfallmedizin. Deutscher Ärzte- Verlag 721 - 724
- Herold G et al. (2020) Innere Medizin. Herold Verlag 585, 656 – 659, 769
- Hoffmann G F et al. (2014) Pädiatrie: Grundlagen und Praxis. Springer Verlag 478
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- Kramme R (2007) Medizintechnik: Verfahren - Systeme – Informationsverarbeitung. Springer Verlag 484
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