Gestationshypertonie
Synonym(e)
Erstbeschreiber
Das HELLP- Syndrom, eine lebensbedrohliche Komplikation der Gestationshypertonie, wurde erstmals im Jahre 1982 von Weinstein beschrieben (Baltzer 2004).
Definition
Unter einer Gestationshypertonie (SIH) versteht man das Auftreten einer de novo Hypertonie nach der 20. SSW ohne weitere pathologische Befunde (Herold 2022). Die Blutdruckwerte liegen dabei ≥ 140 / 90 mmHg (Scharl 2019).
Einteilung
Zu den hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen (HES) zählen:
- chronische Hypertonie
Hierbei besteht bereits vor der Konzeption oder im 1. Trimester eine Hypertonie (Scharl 2019).
- Gestationshypertonie (SIH)
Diese tritt erstmals im Rahmen einer Schwangerschaft nach der 20. SSW auf und hält nicht länger als 12 Wochen post partum an (Rath 2005).
- Präeklampsie
Hierbei finden sich neben der SIH noch weitere neu aufgetretene Abnormitäten wie z. B. Proteinurie, Niereninsuffizienz, Leberbeteiligung, uteroplazentare Dysfunktion, hämatologische bzw. neurologische Komplikationen (Herold 2022).
Die SIH zählt zu den schwangerschaftsinduzierten Hypertonien. Sie werden unterteilt in:
- 1. SIH ohne Proteinurie
- 2. SIH mit Proteinurie und eventuell auch mit Ödemen. Diese Form der Erkrankung wird auch als Präeklampsie bezeichnet (Herold 2022).
Vorkommen
Hypertensive Schwangerschaftsstörungen stellen weltweit eine der Hauptursachen sowohl für die Mortalität der Mütter als auch für die perinatale Mortalität des Kindes dar (Gestational Hypertension and Preeclampsia 2020).
Bei ca. 10 % aller Schwangeren entwickelt sich eine SIH ohne Proteinurie (Herold 2022).
Ätiologie
Die SIH wird durch die Schwangerschaft selbst verursacht (Schwenger 2021).
Risikofaktoren einer SIH sind:
- Nullparität
- anamnestisch bekannte:
- Nierenerkrankung
- Präeklampsie bei vorausgegangener Schwangerschaft
- Antiphospholipid- Antikörper- Syndrom (Kasper 2015)
- Adipositas
- Alter der Mutter < 15 Jahre oder > 35 Jahre
- Mehrlingsschwangerschaft
- Hydrops fetalis
- Trisomie
- In- Vitro- Fertilisation (IVF)
- Blasenmole (Scharl 2019)
Pathophysiologie
Während der Schwangerschaft nimmt das Herzzeitvolumen um bis zu 40 % zu. Der größte Teil davon ist auf den Anstieg der Zunahme des Schlagvolumens zurückzuführen.
Im 2. Trimester nimmt der systemische Gefäßwiderstand ab. Das geht mit einem Abfall des Blutdrucks einher. Bereits ab einem Blutdruck von 140 / 90 mmHg besteht ein Anstieg der perinatalen Morbidität und Mortalität (Kasper 2015).
Die genaue Pathophysiologie einer SIH mit Proteinurie ist nach wie vor unbekannt. Studien zeigen, eine übermäßige plazentare Produktion von Antagonisten des vaskulären epithelialen Wachstumsfaktors VEGF und des transformierenden Wachstumsfaktors beta (TGF- beta). Dadurch werden die Endothel- und glomeruläre Nierenfunktion gestört (Kasper 2015).
Klinisches Bild
Bei einer SIH besteht eine Blutdruckerhöhung von > 135 / 85 mmHg (Dudenhausen 2011).
Diagnostik
Im 1. Trimenon sollte zunächst eine Risikoerfassung der Mutter erfolgen.
Im 2. und 3. Trimenon sind beim Screening auf eine SIH bei den regelmäßigen Untersuchungen nach den Mutterschaftsrichtlinien insbesondere die Blutdruckmessung und eine eventuell bestehende Proteinurie von Bedeutung (Scharl 2019).
Das Abschätzen des Risikos einer Präeklampsie kann durch eine Dopplersonographie der A. uterinae und durch Bestimmung angiogener Faktoren erfolgen (Scharl 2019).
Blutdruckmessungen
Diese sollten immer mit an den Oberarmumfang adaptierten Manschetten erfolgen, die primäre Messung immer beidseits und stets nach einer entsprechenden Ruhephase bei der sitzenden Schwangeren (Scharl 2019).
24- h- Blutdruckmessung
Diese Untersuchung dient der differentialdiagnostischen Abklärung des Hypertonus, insbesondere zum Ausschluss einer „white coat hypertension“. Außerdem lassen sich hierbei Rückschlüsse auf einen etwaigen Verlust des zirkadianen Rhythmus ziehen, welcher ein prognostisch ungünstiges Zeichen ist. Zusätzlich lässt sich der Erfolg einer etwaigen antihypertensiven Therapie beurteilen (Scharl 2019).
Bildgebung
Dopplersonographie
Die Untersuchung sollte im 2. Trimenon erfolgen. Hierbei wird der mittlere Pulsatilitäts- Index (PI) als bester Marker für die Prädiktion einer Präeklampsie bestimmt. Die Sensitivität liegt bei bis zu 93 % (Scharl 2019).
Differentialdiagnose
- White coat hypertension
Bei dieser kann es im weiteren Schwangerschaftsverlauf in bis zu 40 % der Fälle zu einem SIH und bei ca. 8 % zu einer Präeklampsie kommen (Scharl 2019).
Komplikation(en)
- Präeklampsie
Hierbei besteht neben dem Hypertonus zusätzlich eine weitere Organmanifestation (Scharl 2019), wie z. B. eine Proteinurie. Die Präeklampsie tritt bei ca. 25 % der SIH- Erkrankten auf (Herold 2022).
- HELLP- Syndrom (haemolysis, elevated liver enzymes, low platelet count)
Dieses findet sich bei ca. 0,5 % der SIH- Betroffenen (Herold 2022). Hierbei bestehen in erster Linie Schmerzen im rechten Oberbauch durch eine Kapselspannung der Leber sowie Übelkeit, Erbrechen (Baltzer 2004). Es handelt sich hierbei um eine lebensbedrohliche Komplikation (Baltzer 2004 / Schölmerich 2005).
- Eklampsie
Die Eklampsie findet sich bei ca. 0,1 % der von einer SIH Betroffenen (Herold 2022). Es treten generalisierte tonisch- klonische Krämpfe auf (Schölmerich 2005).
Auch bei der Eklampsie handelt es sich um eine lebensbedrohliche Komplikation (Baltzer 2004 / Schölmerich 2005).
- Apoplex
Bei Auftreten von Gerinnungsstörungen bzw. Störungen der Thrombozytenfunktion erhöht sich das Risiko eines Apoplexes (Kasper 2015).
- Entwicklungsstörungen beim Kind
Diese entstehen im Rahmen der SIH durch degenerative Prozesse in der Plazenta (Dellas 2022).
Therapie allgemein
Zwar ist die SIH selbstlimitiert und verschwindet ohne Therapie innerhalb weniger Wochen post partum, aber wegen der Morbidität und Mortalität für Mutter und Kind ist eine frühzeitige Therapie unbedingt erforderlich (Kasper 2015).
Leichte SIH:
Hier empfiehlt sich eine konservative Behandlung mit Begrenzung der körperlichen Aktivität, genauer Überwachung von Blutdruck, Nierenfunktion und dem Föten (Kasper 2015).
Schwere SIH:
Bei Blutdruckwerten ≥ 160 / 110 mm Hg besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Präeklampsie, Frühgeburt oder Apoplex (Scharl 2019).
Hier wird den Schwangeren oftmals eine umgehende (vorzeitige) Entbindung empfohlen (Kasper 2015).
Interne Therapie
Eine medikamentöse Therapie sollte ab Blutdruckwerten von 150 – 160 / 100 – 110 mmHg erfolgen. Bei Blutdruckwerten ≥ 160 / 110 mm Hg empfiehlt sich die Blutdruckeinstellung unter stationären Bedingungen (Scharl 2019).
Der erhöhte arterielle Blutdruck sollte allerdings langsam gesenkt werden, da ansonsten zerebrovaskuläre Zwischenfälle drohen (Kasper 2015). Eine zu drastische Senkung mindert außerdem die plazentare Perfusion und stellt damit eine akute fetale Beeinträchtigung dar (Scharl 2019).
An oraler Medikation stehen zur Verfügung:
- Alpha- Methyldopa
Dieses stell das Medikament der 1. Wahl dar. Dosierungsempfehlung: 250 – 500 mg 2 – 4 x / d p. o., Höchstdosis 2 g / d (Scharl 2019).
- Nifedipin ret.
Dosierungsempfehlung: 20 – 60 mg oral, Maximaldosis 120 mg / d (Scharl 2019)
- Labetalol (Kasper 2015)
Dosierungsempfehlung: Initial 3 x 200 mg / d, die Maximaldosis liegt bei 4 x 300 mg / d (Scharl 2019).
Die Zielwerte des Blutdrucks liegen zwischen 130 – 150 mmHg systolisch und zwischen 80 – 100 mmHg diastolisch (Scharl 2019).
Wegen der negativen Auswirkungen auf die fetale Entwicklung im 2. und 3. Trimenon sollten vermieden werden:
- Angiotensin- Rezeptorblocker
- ACE- Hemmer (Kasper 2015)
Laut Leitlinie sind zwar keine teratogenen Effekte nachgewiesen, sie sind aber dennoch im 2. und 3. Trimenon kontraindiziert, da sie beim Neugeborenen zu akutem Nierenversagen führen (Scharl 2019).
Zur raschen akuten Blutdrucksenkung können eingesetzt werden:
- Urapidil
Dosierungsempfehlung: Initial 6,25 mg langsam i. v. (über 2 min), anschließend über Perfusor 3 – 24 mg / h (Scharl 2019)
Dosierungsempfehlung: Initial 5 mg i. v., anschließend 2 – 20 mg / h über Perfusor (Scharl 2019)
Da Magnesium mit den N- Methyl- D- Aspartat- Rezeptoren im ZNS interagiert, können diese das Anfallrisiko bei Müttern mit SIH senken (Kasper 2015).
Prognose
Die Prognose ist abhängig vom Ausmaß der Hypertonie, da diese die perinatale Sterblichkeit von Mutter und Kind bestimmt (Herold 2022). Bei einer SIH ohne Proteinurie ist die Prognose gut (Herold 2022).
Das Risiko, an einer Gestationshypertonie ohne Proteinurie bei einer erneuten Schwangerschaft zu erkranken, liegt zwischen 16 – 47 % (Scharl 2019).
Hinweis(e)
Prophylaxe
Das Risiko, an einer Präeklampsie zu erkranken, lässt sich durch niedrig dosiertes Aspirin ab Ende des 1. Trimesters reduzieren (Kasper 2015). Laut Leitlinie liegt die Dosierungsempfehlung bei 150 mg / d ASS ab der 16. SSW. Damit lässt sich das Risiko, vor der 37. SSW an einer Präeklampsie bzw. einer SIH zu erkranken, mit bis zu 63 % deutlich senken (Scharl 2019).
Literatur
- Baltzer J, Friese K, Graf M, Wolff F (2004) Praxis der Gynäkologie und Geburtshilfe: Das komplette Praxiswissen in einem Band. Georg Thieme Verlag Stuttgart / New York 244
- Dellas C (2022) Pharmakologie – Kurzlehrbuch. Elsevier Urban und Fischer Verlag München 406
- Dudenhausen J W, Grab D, Obladen M, Pschyrembel W + (2011) Praktische Geburtshilfe mit geburtshilflichen Operationen. Walter de Gruyter Verlag Berlin / Boston 73
- Gestational Hypertension and Preeclampsia (2020) ACOG Practise Bulletin Summary, Number 222. Obstetrics and Gynecology 135 (6) 1492 – 1495 DOI 10.1097/AOG.0000000000003892
- Herold G et al. (2022) Innere Medizin. Herold Verlag 299, 521
- Kasper D L, Fauci A S, Hauser S L, Longo D L, Jameson J L, Loscalzo J et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 45 – 46
- Rath W, Friese K (2005) Erkrankungen in der Schwangerschaft. Georg Thieme Verlag Stuttgart 73
- Scharl A, Ehm D, Kohlberger P, Schlembach D, Stepan H (2019) Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen: Diagnostik und Therapie. Leitlinienprogramm der DGGG, OEGGG undSGGG. AWMF- Registriernummer 015 / 018
- Schölmerich J, Burdach S, Drexler H, Hallek M, Hiddemann W, Hörl W H, Klein H, Landthaler M, Lenz K, Mann K, Mössner J, Müller- Ladner U, Reichen J, Schmiegel W, Schröder J O, Seeger W, Stremmel W, Suttrop N, Weilemann L S, Wöhrle J C (2005) Medizinische Therapie 2005 / 2006. Springer Verlag Heidelberg New York 1522
- Schwenger V (2021) Klinikleitfaden Nephrologie. Elsevier, Urban und Fischer Verlag Deutschland 604