NierenkarbunkelN15.10
Synonym(e)
Definition
Unter einem Nierenkarbunkel versteht man die Konfluenz multipler Abszesse im Bereich des Cortex renalis (Herold 2021). Die Bezeichnung „Nierenkarbunkel“ stellt außerdem den historischen Ausdruck eines Nierenabszesses dar (Manski 2019).
Einteilung
Abszesse im Bereich der Niere werden unterteilt in:
- Nierenkarbunkel:
- solitär im Kortex gelegener konfluierender Abszess
- Entstehung überwiegend hämatogen (Keller 2010)
- medullärer Abszess:
- intrarenal gelegen (Hegele 2015)
- überwiegend durch eine aszendierende Infektion der Harnwege hervorgerufen, bei der Keime eines primären Harnwegsinfekts in die Niere aufsteigen (Kasper 2015)
- perinephritischer Abszess:
- im perinephritischen Raum innerhalb der Gerota- Faszie gelegen
- in erster Linie Folge einer Abszessruptur (Risler 2008)
- paranephritischer Abszess:
- außerhalb der Gerota- Faszie gelegen
- Folge eines Abszessdurchbruchs durch die Gerota- Faszie (Vahlensieck 2015)
Vorkommen/Epidemiologie
Vor der Antibiotika- Ära war der überwiegende Teil der Nierenabszesse hämatogenen Ursprungs, während heutzutage > 75 % der Abszesse durch Aszension entstehen (Kasper 2015).
Nierenabszesse machen ca. 2 % aller renalen Raumforderungen aus und sind damit eher selten (Schaefer- Prokop 2007).
Sämtliche Formen der Nierenabszesse (s. „Einteilung“) treten bei Frauen deutlich häufiger auf als bei Männern (Verhältnis von 5 : 1 [Vahlensieck 2015]). Das Durchschnittsalter der Erkrankung liegt zwischen 53 – 57 Jahren (Hegele 2015).
Bei einer aszendierenden Infektion sind nicht selten (bei 2 von 3 betroffenen Patienten) anatomische Anomalien nachweisbar (Keller 2010).
Ätiopathogenese
Nierenabszesse werden durch hämatogene Streuung oder abszedierende Infektionen verursacht, wobei Letztere zahlenmäßig eine größere Rolle spielt (Keller 2010).
- Abszedierende Infektion:
Bei der abszedierenden Infektion kann es sich um folgende Erreger in absteigender Reihenfolge handeln:
- gramnegative Erreger
- grampositive Erreger
- Anaerobier
- Candida spp.
(Hegele 2015)
Folgende Risikofaktoren können hierbei eine Rolle spielen:
- Nephrolithiasis (findet sich bei 20 % - 60 % aller Patienten mit perinephritischen Abszessen)
- strukturelle Veränderungen der Harnwege
- anamnestisch urologischer Eingriff
- Trauma
- Diabetes mellitus
(Kasper 2015)
- Hämatogene Streuung:
Bei der hämatogenen Streuung liegt primär in den meisten Fällen eine Hautinfektion (bevorzugt durch Staphylococcus aureus) vor, die dann hämatogen streut.
Aber auch durch Candida spp. ist - neben der o. g. Ursache für eine abszedierende Infektion - eine hämatogene Ausbreitung möglich (Kasper 2015).
Besondere Risikofaktoren sind hierbei Vorerkrankungen wie z. B.:
- Diabetes mellitus
- Immunsuppression
- Hämodialyse
- i. v. Drogenabusus
(Risler 2008)
- in sehr seltenen Fällen auch eine Infektion mit Pyoderma gangraenosum
(Reynolds 2016)
Pathophysiologie
- Abszedierende Infektion
Bei dieser Art von Infektion besteht primär ein Harnwegsinfekt, von dem aus die Erreger durch Aszension in die Niere gelangen und hier zunächst eine Pyelonephritis hervorrufen.
Dabei kann das Nierenparenchym vom Mark ausgehend bis hin zur Rinde von den Erregern befallen sein, wobei oftmals die lokalen Gefäßkanäle der Niere beim Transport der Erreger mitbeteiligt sind.
Die sich zunächst im Parenchym bildenden Abszesse, verbreiten sich perinephritisch und können nach Durchbruch der Gerota- Faszie bis in den paranephritischen Raum hinein rupturieren. Dadurch kann sich eine Abszessstraße bis hin zum M. psoas, M. transversus abdominis und zur vorderen Peritonealhöhle, nach unten bis in das Becken und nach oben bis in den subdiaphragmalen Raum hin entwickeln.
(Kasper 2015)
Klinisches Bild
Die Symptome sind bisweilen unspezifisch oder können auch ganz fehlen (insbesondere bei Diabetikern [Vahlensieck 2015]). Das Erscheinen des Primärherdes bei einer hämatogenen Streuung liegt anamnestisch 1 – 8 Wochen zurück (Hegele 2015).
Ansonsten sind folgende Symptome möglich:
- Fieber (tritt bei ≥ 50 % der Patienten und kann trotz adäquater Antibiose > 5 d anhalten)
- je nach Lokalisation sind folgende Schonhaltungen bzw. Veränderungen möglich:
- Abszess am unteren Pol: Hüftbeugung nach vorn zur Schonhaltung des M psoas
- Abszess dorsal: Haltung der WS in Lordose
- kranialer Abszess: Zwerchfellhochstand
- medio- ventraler Abszess: Reizung des Peritoneums möglich
- Rötung des entsprechenden Dermatoms mit Parästhesien
(Keller 2010)
- Schmerzen im Bereich der Leiste oder Extremitäten
- Hämaturie
(Kasper 2015)
- reduzierter Allgemeinzustand
- Übelkeit
- gelegentlich palpabler Tumor im Flankenbereich
- Symptome einer Harnblaseninfektion (s. d.)
- Zeichen einer septischen Metastasierung wie z. B. sekundäre Endophthalmitis (verschwommenes Sehen)
(Vahlensieck 2015)
Diagnostik
Wegen der bisweilen unspezifischen Symptome kann die Diagnose eines Nierenabszesses oftmals erst verzögert gestellt werden. Bei folgenden Krankheitsbildern sollte deshalb ein Nierenabszess in Betracht gezogen werden:
- Symptome einer Pyelonephritis persistieren
- persistierendes Fieber
- Urinkultur weist eine Mischform auf
- bekannte Nephrolithiasis und gleichzeitiges Fieber und Pyurie bei steriler Urinkultur
(Kasper 2015)
Bildgebung
Sonographie
- ein Nierenabszess kann in ca. 60 % der Fälle nachweisbar sein als echofreie oder echoarme Zone
- Vergrößerung der Niere
- Kontur kann verändert sein
- umliegendes Nierengewebe oftmals ödematös verdickt
- nicht selten finden sich Hinweise auf eine Nephrolithiasis
(Vahlensieck 2015)
Bei sonographischen Auffälligkeiten empfiehlt sich die Durchführung einer CT (Manski 2019).
Doppler- Sonographie
Dopplersonographisch findet sich meistens eine verstärkte Durchblutung am Rande des Abszesses, während im Zentrum keine Durchblutung mehr nachweisbar ist (Manski 2019).
Computertomographie / MRT
CT und MRT gelten hinsichtlich einer Abszessdarstellung als beste Darstellungsverfahren, wobei eine Ruptur i. d. R. besser in der MRT zu sehen ist.
Es zeigen sich:
- initial Nierenvergrößerung
- fokale Herde mit fehlender Kontrastmittelaufnahme
- im weiteren Verlauf um den Abszess herum fibrotischer Wall
- innerhalb des Abszesses:
- Flüssigkeitsspiegel
- Septen
- Verdickung der Gerota- Faszie
(Vahlensieck 2015)
Typisch ist nach Kontrastmittelgabe eine Anreicherung des Kontrastmittels im Randbereich als sog. „Ringzeichen“ (Manski 2019).
i. v. Pyelogramm
Sofern CT oder MRT nicht zugängig sind, kann die Diagnose auch durch ein i. v. Pyelogramm gestellt werden. Hierbei zeigen sich:
- Vergrößerung der Niere
- unregelmäßige Kontur
- fehlende Atemverschieblichkeit der Niere
- fehlender Psoasrandschatten
- zum Abszess hin konkave Skoliose
- stumme Niere bei diffusem Befall
Sollte es sich um einen Abszess an der Vorder- oder Rückfläche der Niere ohne Zugang zum Nierenbeckenkelchsystem handeln, kann das IVP völlig unauffällig sein.
(Vahlensieck 2015)
Labor
- Leukozytose (die trotz adäquater Antibiose > 5 d anhält)
(Keller 2010)
- BSG- Beschleunigung
- CRP- Erhöhung
- Quick- Abfall
- Abfall der Thrombozyten
- Entgleisung der Elektrolyte
- Erhöhung der Retentionsparameter
(Vahlensieck 2015)
Zusätzlich empfiehlt sich bei V. a. eine Sepsis die Bestimmung insbesondere folgender Parameter:
- Blutkulturen (sind bei ca. 20 % positiv [Vahlensieck 2015)]
- Blutgasanalyse
- Procalcitonin
- AT III
- Fibrinogen
(Manski 2019)
Urinbefund:
Der Urinbefund kann – insbesondere bei hämatogener Streuung - unauffällig sein (Kuhlmann 2015).
Sofern eine Verbindung zu den ableitenden Harnwegen besteht findet man:
- Pyurie
- Bakteriurie
Hinsichtlich der Identifizierung des Keims sollte berücksichtigt werden, dass Anaerobier (Ursache bei ca. 12 %) und Pilze (kommt in 1 % vor) nicht zur Routinebakteriologie zählen.
(Vahlensieck 2015)
Differentialdiagnose
- Nierentumor (insbesondere Wilmstumor bei Kindern [Freisen 2010])
- infizierte Zyste
- Abszess innerhalb einer Zyste
- Tuberkulose
(Vahlensieck 2015)
Komplikation(en)
- Sepsis
Therapie allgemein
Die Behandlung eines Nierenabszesses umfasst i. d. R. eine:
- umgehende antibiotische Behandlung
- Abszessdrainage
- Beseitigung eventuell vorhandener Obstruktionen oder anderer Kausalfaktoren
(Hegele 2015)
In Ausnahmefällen wie z. B. bei Diabetikern, die eine Obstruktion oder einen großem Gewebszerfall zeigen, kann auch u. U. eine Nephrektomie erforderlich werden (Hegele 2010).
Interne Therapie
Vorbehandelte Patienten:
Bei Patienten, die vor Diagnosestellung bereits eine Monotherapie (wegen einer Pyelonephritis) erhalten haben und diese inzwischen Teilerfolge zeigt, sollte fortgesetzt werden.
Nicht vorbehandelte Patienten:
Bei bislang nicht vorbehandelten Patienten empfiehlt sich als Mittel der 1. Wahl ein Fluorchinolon wie z. B.:
- Ciprofloxacin (Dosierungsempfehlung: 2 x 0,4 g / d)
- Levofloxacin (Dosierungsempfehlung: 1 x 0,5 – 0,75 g / d)
oder
ein Cephalosporin der Gruppen 3 und 4 wie z. B.:
- Cefotaxim (Dosierungsempfehlung: 3 x 2 g / d)
- Cefepim (Dosierungsempfehlung: 2 x 1 - 2 g / d)
(Hegele 2015)
Insbesondere bei großen Abszessen können bisweilen in der Abszessflüssigkeit andere Erreger nachgewiesen werden als in der Urinkultur. In diesen Fällen ist eine Anpassung der Antibiose erforderlich (Keller 2010).
Die Behandlungsdauer liegt zwischen 4 - 6 Wochen (Hegele 2015) und sollte auf jeden Fall noch über 10 d nach Normalisierung der Laborparameter hinaus weitergeführt werden (Keller 2010).
Operative Therapie
Abszessdrainage
Bei einer Abszessgröße von < 3 cm und dem Fehlen sonstiger Risikofaktoren kann u. U. die alleinige antibiotische Behandlung ausreichend sein.
Bei einer Abszessgröße zwischen 3 cm – 5 cm und einer Einschränkung des Immunsystems oder fehlender Besserung unter Antibiose, kann die perkutane Entlastung mit Anlage einer Kultur zu einer Verbesserung der Situation führen(Hegele 2015).
Abszesse, die > 5 cm sind, sollten immer offen- chirurgisch, laparoskopisch oder perkutan drainiert werden (Hegele 2015).
Die perkutane Drainage überwiegt dabei mit 56 % gegenüber der offen chirurgischen Drainage mit 29 %.
Eine sofortige oder verzögerte Nephrektomie ist durchschnittlich bei 13 % der Patienten erforderlich.
(Vahlensieck 2015)
Verlauf/Prognose
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte ein Nierenabszess nicht zuletzt wegen der eingeschränkten diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten eine lebensbedrohliche Erkrankung mit einer Mortalität von bis zu 50 % dar (El-Khadra 2004), aber auch heute liegt die durchschnittliche Mortalitätsrate eines Nierenabszess bzw. Nierenkarbunkels immer noch zwischen 8 % - 23 % (Vahlensieck 2015).
Lediglich in Fällen der noch fehlenden subkapsulären Ausbreitung sind die prognostischen Aussichten unter einer sofort eingeleiteten entsprechenden Behandlung gut (Keller 2010).
Nachsorge
Nach Beendigung der Antibiose sollten Laborkontrollen mit besonderem Hinblick auf Leukozyten, BSG, Urinkultur und Urinsediment zunächst im 2- Wochenrhythmus für 3 Monate erfolgen (Keller 2010).
Literatur
- El-Khadra S (2004) Differentialdiagnostische und therapeutische Probleme des paranephritischen Abszesses -- eine retrospektive Analyse der Patienten im Krankenhaus Moabit von 1967-1994. Dissertation zum Erwerb des Doktorgrades der Medizin an der Medizinischen Fakultät der Ludwigs-Maximilians-Universität zu München
- Freisen M et al. (2010) Nierenabszess unter dem Bild eines Nierentumors. Klinische Pädiatrie 222 DOI: 10.1055/s-0030-1261453
- Hegele A et al. (2015) Urologie: Intensivkurs zur Weiterbildung. Thieme Verlag 163
- Herold G et al. (2021) Innere Medizin. Herold Verlag 619
- Hofmann V et al. (2005) Ultraschalldiagnostik in Pädiatrie und Kinderheilkunde: Lehrbuch und Atlas. Thieme Verlag 457 – 458
- Ishikawa K (2011) Nierenabszesse. aus: Brunkhorst R Nieren- und Hochdruckkrankheiten Dustri Verlag 384 - 388
- Kasper D L et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 851
- Kasper D L et al. (2015) Harrisons Innere Medizin. Georg Thieme Verlag 1038
- Keller C K et al. (2010) Praxis der Nephrologie. Springer Verlag 16, 79 - 80
- Kuhlmann U et al. (2015) Nephrologie: Pathophysiologie - Klinik – Nierenersatzverfahren. Thieme Verlag 599
- Manski D (2019) Das Urologielehrbuch. Dirk Manski Verlag 248
- Reynolds C et al (2016) Multiple Abszesse nach Südamerikakreuzfahrt. Der Internist (57) 284 - 288
- Risler T et al. (2008) Facharzt Nephrologie. Elsevier Urban und Fischer Verlag 829
- Vahlensieck W et al. (2015) in: Michel M Die Urologie. Springer Verlag 299 - 300
- Schaefer- Prokop C et al. (2007) Intrarenaler oder perirenaler Abszess. In: Prokop M et al. Ganzkörper- Computertomographie: Spiral- und Multislice- CT. Thieme Verlag 677 - 720 doi:10.1055/b-004-133330