Lynch-SyndromC18.9
Synonym(e)
Erstbeschreiber
Bereits im 19. Jahrhundert beschrieb der Arzt Aldred Warthin erstmals ein HNPCC (Schaffner 2004), indem er eine Familie mit zahlreichen Verdauungstrakt- und gynäkologischen Karzinomen beschrieb (Pellat 2018).
Im Jahre 1962 beschrieb H. T. Lynch das nach ihm benannte Lynch- Syndrom näher (Pellat 2018) und identifizierte zwei verschiedene Arten eines HNPCC:
- Typ I: Hierbei findet sich eine ausschließliche Manifestation als kolorektales Karzinom mit bevorzugtem Sitz im proximalen Kolon. Es kann syn- und metachron auftreten.
- Typ II: Hierbei treten neben kolorektalen Karzinomen u. a. auch Malignome des Magens, der Leber, des Pankreas, des Larynx sowie des Endometriums bzw. des Urothels auf (Schaffner 2004).
Definition
Beim Lynch- Syndrom (LS) handelt es sich um eine hereditäre Erkrankung, bei der im medianen Alter kolorektale Karzinome auftreten (Herold 2020).
Neben dem gehäuften Auftreten kolorektaler Karzinome können auch u. a. Karzinome des Magens, Dünndarms, der ableitenden Harnwege und Endometriumkarzinome auftreten (Ganten 2022).
Vorkommen/Epidemiologie
Das Lynch- Syndrom stellt die häufigste Form des erblich bedingten Darmkrebses dar (Ghadimi 2022).
Bislang ging man davon aus, dass ca. 5 % aller kolorektalen Karzinome durch das Lynch- Syndrom hervorgerufen werden. Durch Verbesserung der Diagnostik, insbesondere durch die Panel- Diagnostik, hat sich aber gezeigt, dass es vielmehr ca. 10 % sind (Ghadimi 2022).
Bei Patienten mit Endometriumkarzinom weisen 2 % der Betroffenen ein Lynch- Syndrom auf (Pellat 2018).
Ätiopathogenese
Das Lynch- Syndrom geht mit Keimbahnmutationen eines MMR- Gens (MisMatch Repair) [Pellat 2018] und hoher Penetranz (Kasper 2015) in mehreren DNA- Reparaturgenen einher (Ganten 2002). Es wird autosomal- dominant vererbt (Herold 2020) und damit zu 50 % auf die Nachkommen vererbt (Steinke- Lange 2024).
Die Träger einer pathogenen konstitutionellen Variante haben ein deutlich erhöhtes Krebsrisiko, die Penetranz des Phänotyps liegt aber nicht bei 100 % (Pältomöki 2023).
Manifestation
Typisch für ein mit einem Lynch- Syndrom assoziierten Karzinom ist der deutlich frühere Krankheitsbeginn als entsprechend unassoziierte maligne Erkrankungen (Emons 2021).
Die meisten Betroffenen erkranken vor dem 50. Lebensjahr, das Hauptmanifestationsalter liegt zwischen 30 – 50 Jahren. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen. Bei ca. 70 % der Patienten findet sich initial ein kolorektales Karzinom (Schaffner 2004).
Lokalisation
- Kolorektale Karzinome (CRC):
Im rechten Kolonabschnitt sind mehr als 50 % der kolorektalen Karzinome des Lynch- Syndroms lokalisiert (Herold 2020).
- Endometrium- Karzinome (EC):
Das Endometrium- Karzinom wird auch als „Sentinel- Karzinom“ bezeichnet (Emons 2021). Das Risiko, ein Endometriumkarzinom zu entwickeln, liegt bei durchschnittlich bis zu 50 % (Herold 2020). Bei von einem Lynch- Syndrom betroffenen Frauen manifestiert sich das EC in > 50 % als das erste Karzinom (Emons 2021). Das mediane Erkrankungsalter liegt zwischen 46 bis 48 Jahren (Leitlinienprogramm Onkologie 2019).
- Ovarial-, Magen- bzw. Urothelkarzinom:
Die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, liegt bei Betroffenen jeweils < 10 %.
- Dünndarm-, Gallengang- bzw. Pankreas- Karzinom:
Diese Karzinome treten nur sehr selten im Rahmen eines Lynch- Syndroms auf
- Muir- Torre- Syndrom:
Hierbei kommt es zu einer Kombination mit Talgdrüsentumoren.
- Turcot- Syndrom:
Beim Turcot- Syndrom findet sich eine Kombination mit Hirntumoren (Herold 2020).
Diagnostik
Die erste Screening Methode zum Nachweis eines Lynch- Syndroms ist das Vorhandensein von MSI Tumorzellen, auch als Mikrosatelliteninstabilität bezeichnet (Emons 2021). Derzeit wird empfohlen, alle CRC- Biopsien auf MSI- H / MMR- D hin zu testen, um frühzeitig Hinweise auf ein Lynch- Syndrom erhalten zu können (Biller 2019). Gleichzeitig gilt der Nachweis von MSI als Indikation für den Einsatz von Checkpoint- Inhibitoren (s. a. unter „Interne Therapie“) (Emons 2021).
Für Familien, bei denen der klinische Verdacht auf ein Lynch- Syndrom besteht, die selbst aber noch nicht erkrankt sind, stehen Vorhersagemodelle wie z. B. das REMM (s. http://premm.dfci.harvard.edu/) zur Verfügung (Biller 2019).
Bei der Diagnostik des Lynch- Syndroms spielen insbesondere die von einer internationalen Studiengruppe im Jahre 1990 festgelegten Amsterdam Kriterien eine große Rolle. Dabei beziehen sich Amsterdam Kriterien 1 ausschließlich auf kolorektale Karzinome, bei den Amsterdam Kriterien 2 hingegen werden auch extrakolische Manifestationen mit einbezogen.
- Amsterdam Kriterien:
1. Der Patient hat mindestens drei Verwandte mit histologisch gesichertem HNPCC- assoziierten Karzinomen.
2. Ein Betroffener ist jünger als 50 Jahre alt.
3. Mindestens einer der beiden Verwandten mit Kolonkarzinom ist erstgradig verwandt mit den beiden anderen.
4. Es kommen in mindestens zwei Generationen kolorektale Karzinome vor
5. Ausschluss einer familiären adenomatösen Polyposis (Leitlinienprogramm Onkologie 2019)
Sämtliche Kriterien müssen zutreffen, um die Diagnose eines HNPCC zu stellen (Schaffner 2004).
Es gibt weitere Kriterien wie z. B.:
- Kopenhagen- Kriterien
Diese wurden 1993 in Kopenhagen entwickelt. Grundlage dieser Kriterien sind die o. g. Amsterdamer- Kriterien. Zusätzlich wurden diese wie folgt erweitert:
1. Endometriumkarzinome
2. Dünndarmkarzinome
3. Ovarialkarzinome vor dem 50. Lebensjahr
4. Magenkarzinome vor dem 50. Lebensjahr
5. Hepatobiliäre Karzinome
6. Urothelkarzinome (Schaffner 2004)
Im Jahre 1996 stellte in Bethesda ein internationaler HNPCC- Workshop Screening- Kriterien zur Identifizierung von Patienten mit HNPCC, die sog. Bethesda- Kriterien auf:
- Bethesda- Kriterien
Sie besagen, dass folgende Patienten getestet werden sollten:
1. Patienten mit Krebserkrankungen innerhalb der Familie, bei denen die Amsterdam- Kriterien erfüllt sind
2. Patienten mit zwei HNPCC- assoziierten Karzinomen (syn- oder metachron) oder damit verbundenen Karzinomen außerhalb des Kolons
3. Patienten mit kolorektalen Karzinomen und einem Verwandten 1° mit kolorektalem Karzinom
und / oder
HNPCC- typischem extrakolischen Karzinom
und / oder
kolorektalem Adenom. Dabei muss eines der Karzinome im Alter ≤ 45 Jahre diagnostiziert worden sein, das Adenom im Alter ≤ 40 Jahre
4. Patienten mit kolorektalen Karzinomen oder Endometrium- Karzinom. Alter bei Diagnosestellung ≤ 45 Jahre
5. Patienten mit rechtsseitigen kolorektalen Karzinomen undifferenzierter Histologie (solide / kririform). Alter bei Diagnosestellung ≤ 45 Jahre (Siegenthaler 2006)
Die Bethesda- Kriterien wurden im weiteren Verlauf wie folgt überarbeitet:
1. Diagnose eines kolorektalen Karzinoms vor dem 50. Lebensjahr.
2. Unabhängig vom Alter Diagnosestellung eines syn- oder metachromen kolorektalen Karzinoms oder anderen HNPCC- assoziierten Tumoren wie z. B. Kolon, Rektum, Endometrium, Magen, Nierenbecken, Ureter, Ovar, biliäres Syndrom, Gehirn, Haut, Pankreas.
3. Diagnosestellung eines kolorektalen Karzinoms vor dem 60. Lebensjahr mit Tumoren in typischer Histologie eines MSI- H- Tumors wie z. B. Crohn‘ s like Lesions, tumorinfiltrierende Lymphozyten, medullärem Karzinom, muzinöser oder siegelringzellartiger Differenzierung.
4. Patienten mit kolorektalem Karzinom, bei dem mindestens ein Verwandter ebenfalls ein kolorektales Karzinom oder einen HNPCC- assoziierten Tumor vor dem 50. Lebensjahr entwickelt hat.
5. Patient mit kolorektalem Karzinom, unabhängig vom Alter, bei dem mindestens zwei Verwandte 1. oder 2. Grades ebenfalls ein kolorektales Karzinom oder einen HNPCC- assoziierten Tumoren unabhängig vom Alter entwickelt haben (Leitlinienprogramm Onkologie 2019).
Falls eins der beschriebenen Kriterien erfüllt ist, sollte der Patient auf Mikrosatelliteninstabilität hin untersucht werden (Siegenthaler 2006).
Histologie
Beim Lynch- Syndrom finden sich histologisch Crohn‘ s like Lesions, tumorinfiltrierende Lymphozyten, medulläre Karzinome, muzinöse oder siegelringzellartige Differenzierungen (Leitlinienprogramm Onkologie 2019).
- Typ I: muzinöses Adenokarzinom (Schaffner 2004)
- Hirntumore: Histologisch überwiegend als Astrozytome und Glioblastome (Leitlinienprogramm Onkologie 2019).
Differentialdiagnose
- Lynch- like- Syndrom (LLS)
Bei diesem Tumor findet sich bei Screening- Untersuchungen eine MSI oder auch ein Fehlen der MMR- Genprodukte, eine Keimbahnmutation in den MMR- Genen liegt jedoch nicht vor (Emons 2021).
Es gelingt bei ca. 60 % der Mismatch- Reparatur- defizienten kolorektalen Karzinome kein Nachweis einer Keimbahnmutation (Ghadimi 2022).
Interne Therapie
- Checkpoint- Inhibitoren
Der Nachweis von MSI gilt als Indikation für den Einsatz von Checkpoint- Inhibitoren (Emons 2021).
Checkpoint- Inhibitoren zählen zur Klasse der Antikörper (Aktorius 2022)
Da Lynch- Syndrom- assoziierte Karzinomerkrankungen fast immer MSI-H / MMR- D enthalten, zeigt sich insbesondere ein Ansprechen der Tumoren auf immunbasierte Therapien wie z. B. Immuncheckpoint- Inhibitoren. Derzeit laufen entsprechende randomisierte Studien (Biller 2019).
Operative Therapie
Bei Nachweis eines kolorektalen Karzinoms wird eine erweiterte Resektion des befallenen Darmabschnittes empfohlen (Ghadimi 2022).
Verlauf/Prognose
Alle wichtigen Lynch- Syndrom- assoziierten Karzinome sind mit sehr guten Überlebensraten verbunden. So beträgt die 10- Jahres- Überlebensrate bei:
- Kolonkarzinom 88 %
- Rektumkarzinom 70 %
- Endometriumkarzinom 89 %
- Ovarialkarzinom 84 % (Pältomäki 2023)
Prophylaxe
Bislang gibt es keine allgemein anerkannten Maßnahmen zur Früherkennung eines Lynch- Syndroms (Schaffner 2004).
Hinweis(e)
Mitglieder betroffener Familien eines Lynch- Syndroms sollten sich ab einem Alter von 25 Jahren jährlich oder alle zwei Jahre einer Koloskopie unterziehen, Frauen zusätzlich einer Beckenultraschalluntersuchung und Biopsien des Endometriums (Kasper 2015).
Empfohlen werden inzwischen folgende Zeitabstände bei den Untersuchungen von Lynch- Patienten empfohlen:
- Körperliche Untersuchung 1 x jährlich
- Vorliegen eines kolorektalen Karzinoms: Koloskopie alle 12 – 24 Monate ab dem 25. Lebensjahr bzw. 5 Jahre vor dem frühesten Erkrankungsalter
- Vorliegen eines Magen- bzw. Dünndarmkarzinoms: Ösophagogastroduodenotomie alle 12 – 36 Monate ab dem 25. Lebensjahr bzw. 5 Jahre vor dem frühesten Erkrankungsalter
- Vorliegen eines Ovarialkarzinoms: keine
- Vorliegen eines Endometriumkarzinoms: Optionale Untersuchung durch eine transvaginale Sonographie und Endometrium Biopsie ab dem 30. – 35 Lebensjahr (Ghadimi 2022).
Es gibt keine Empfehlung zur prophylaktischen Kolektomie, da durch entsprechende Vorsorgeuntersuchungen die Karzinome i. d. R. bereits im Frühstadium erkannt werden (Ghadimi 2022).
Prophylaktische Hysterektomien und Salpingoophorektomien beugen dem Lynch- assoziiertem EC und Ovarialkarzinomen wirksam vor. Ebenso kann eine hochdosierte Therapie mit Aspirin (≥ 2 Jahre lang 600 mg Aspirin pro Tag) die Inzidenz von Lynch- assoziierten Karzinomen reduzieren (Biller 2019). Burn et al. veröffentlichten im Jahre 2020 im Lancet eine Studie, wonach die vorbeugende Verabreichung von 600 mg Acetylsalicylat pro Tag über 2–4 Jahre die Inzidenz von CRC in einer über 10-jährigen Nachbeobachtungzeit nahezu um die Hälfte reduzierte (Burn 2020).
In letzter Zeit haben sich zunehmend Hinweise ergeben, die darauf deuten, dass der klinische Phänotyp und das Krebsrisiko je nach Mismatch- Reparatur- Mutation variieren (Biller 2019).
Literatur
- Aktories K, Flockerzi V, Förstermann U, Hofmann F B (2022) Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie. Elsevier Urban und Fischer Verlag 16.5.4
- Biller L H, Syngai S, Yurgelun M B (2019) Recent advances in Lynch syndrome. Fam Cancer 18 (2) 211 – 219
- Burn J, Sheth H, Elliott F, Reed L, Macrae F, Mecklin J P, Möslein G, McRonald F E, Bertario L, Evans D G, Gerdes A M, Ho J W C, Lindblom A, Morrison P J, Rashbass J, Ramesar R, Seppälä T, Thomas H J W, Pylvänäinen K, Borthwick G M, Mathers J C, Bishop D T (2020) Cancer prevention with aspirin in hereditary colorectal cancer (Lynch syndrome), 10-year follow-up and registry-based 20-year data in the CAPP2 study: a double-blind, randomised, placebo-controlled trial. Randomized Controlles Trial. Lancet 395 (10240) 1855 – 1863
- Emons G (2021) Schwerpunkt Erbliche Tumoren: Das Lynch- Syndrom ist ein bedeutendes erbliches Tumorsyndrom. Tumor, Diagnostik und Therapie 42 (10) 716 - 724
- Ganten D, Ruckpaul K, Hahn S A, Schmiegel W (2002) Molekularmedizinische Grundlagen von nicht- hereditären Tumorerkrankungen. Springer Verlag Berlin / Heidelberg / New York 176
- Ghadimi M, Kalff J C (2022) Allgemein- und Viszeralchirurgie II: Spezielle operative Techniken. Elsevier Urban und Fischer Verlag Deutschland 298 - 302
- Herold G et al. (2020) Innere Medizin. Herold Verlag 491
- Kasper D L, Fauci A S, Hauser S L, Longo D L, Jameson J L, Loscalzo J et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 446, 540
- Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): S3-Leitlinie Kolorektales Karzinom, Langversion 2.1 (2019) AWMF Registrierungsnummer: 021/007OL, http://www.leitlinienprogrammonkologie.de/leitlinien/kolorektales-karzinom/ [abgerufen am: 22.08.2024]
- Pellat A, Netter J, Perkins G, Cohen R, Coulet F, Parc Y, Svrcek M, Duval A, Andre T (2018) Lynch syndrome: What is new? Bull Cancer (7 – 8) 647 – 655
- Pältomäki P, Nyström M, Mecklin J P, Seppälä T T (2023) Lynch Syndrome Genetics and Clinical Implications. Gastroenterology 164 (5) 783 - 799
- Schaffner M (2004) Untersuchungen zur Inzidenz und Identifikation von Patienten mit hereditären nicht-polypösen kolorektalen Karzinomen (HNPCC) in einem Universitätsklinikum und in akademischen Lehrkrankenhäusern. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin des Fachbereichs Medizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
- Siegenthaler W, Blum H E (2006) Klinische Pathophysiologie. Georg Thieme Verlag Stuttgart / New York 853
- Steinke- Lange V, Holinsky- Feder E (2024) Lynch- Syndrome. Best Practise Onkologie (19) 270 – 279