Hypoglycaemia factitiaE16.0
Synonym(e)
Definition
Unter einer Hypoglycaemia factitia versteht man eine durch Injektion von Insulin oder Einnahme von Sulfonylharnstoffen artifiziell hervorgerufene Hypoglykämie (Herold 2020).
Vorkommen/Epidemiologie
Betroffen sind mehr Frauen als Männer, überwiegend in einem Alter zwischen 20 – 40 Jahren, die fast ausschließlich im medizinischen Bereich tätig sind (Thomas 2005).
Ätiopathogenese
Die Ursachen einer Hypoglycaemia factitia können sein:
- akzidentell
- psychotisch
- suizidal
- kriminell (Herold 2020)
Klinisches Bild
Es treten regellos und unabhängig von der Nahrungsaufnahme die typischen Symptome einer Hypoglykämie auf (Herold 2020) wie z. B. Zittern, Schwitzen, Unruhe, Heißhunger (Berlit 2005), Diaphorese, Blässe (Kasper 2015). Näheres s. Hypoglykämie.
Labor
Nach Objektivierung einer Hypoglykämie durch BZ- Messung und anschließender Stabilisierung des Patienten sollten zur Diagnostik einer Hypoglycaemia factitia bzw. der entsprechenden differentialdiagnostischen Erkrankungen erhobenwerden:
C- Peptid- Bestimmung im Serum
Auswertung:
Eine deutliche Erhöhung findet sich bei:
- Insulinom
- multiplen endokrinen Neoplasien
- Diabetes mellitus
- Hypoglycaemia factitia durch Sulfonylharnstoffe (Tiller 2005)
Supprimiert bei:
- Hypoglycaemia factitia durch Insulin (Tiller 2005)
Insulin / Proinsulin
Bei missbräuchlicher Einnahme von Sulfonylharnstoffen sind Insulin und Proinsulin erhöht. Nicht selten zeigt sich ein Insulinwert von > 100 mU / l = 600 pmol / l (Thomas 2005).
Sulfonylharnstoff- Nachweis
Negativ bei: Insulinom, Hypoglycaemia factitia durch Insulin
Positiv bei: Hypoglycaemia factitia durch Sulfonylharnstoffe (Niederau 2021)
Insulin- Antikörper- Bestimmung
Bei häufiger missbräuchlicher Verwendung von Insulin sind mitunter Insulin- Antikörper nachweisbar (Thomas 2005).
72 h- Hungerversuch
Der Hungerversuch wird u. a. eingesetzt, um eine durch inadäquat hohe (Pro-) Insulinfreisetzung entstandene Hypoglykämie, wie sie z. B. beim endogenen Hyperinsulinismus oder beim Insulinom auftreten kann, nachzuweisen(Krebs 2018).
Hierbei werden Seruminsulin, Blutglukose, Insulin- / Glukose- Quotient und C- Peptid bestimmt.
Ergebnis:
- Insulin und C- Peptid zeigen einen parallelen Anstieg bei endogener Sekretion
- C- Peptid ist erniedrigt bei exogener Insulinzufuhr (z. B. Hypoglycaemia factitia)
- Insulin und C- Peptid sind erhöht bei Einnahme von Sulfonylharnstoffen (z. B. Hypoglycaemia factitia)
- Nachweis von Proinsulin i. S. oder Glibenclamid i. S. im Normbereich bei Einnahme von therapeutischen DosenSulfonylharnstoffe, erhöht bei Insulinom (Herold 2020)
Die Differenzierung zwischen Insulinom und Hypoglycaemia factitia ist möglich durch die Bestimmung des Sulfonylharnstoff- Präparates im Serum.
Durch Insulin verursachte Hypoglycaemia factitia kann durch den supprimierten C- Peptidwert erkannt werden (Thomas 2005).
Differentialdiagnose
- Bei Nicht- Diabetikern:
- Insulinom
- Epilepsie
- Apoplex (Herold 2020)
Bei Diabetikern:
- Hypoglykämie (Ätiologie s. d.)
Komplikation(en)
Demenz: Bei rezidivierenden Hypoglykämien treten Demenzen mutmaßlich gehäuft auf (Herold 2020).
Akutes Koronarsyndrom: Tritt besonders bei älteren Patienten > 70 Jahre in den ersten 10 Tagen nach einem hypoglykämischen Koma auf (Cruz 2020).
Apoplex: Das Apoplex- Risiko erhöht sich durch Hypoglykämien (Cruz 2020).
Therapie
Die symptomatische Therapie einer Hypoglycaemia factitia ist abhängig vom Schweregrad der Hypoglykämie:
- 1. a Leichte Hypoglykämie: Der Patient sollte Glukose (= Dextrose) oral mit einer Anfangsdosis von 20 - 40 mg oral zu sich nehmen. Auch Saccharose (= Rohr- oder Rübenzucker) bzw. Oligosaccharid- Getränke (= Fruchtsäfte, Cola) können verabreicht werden (Kasper 2015) wie z. B.:
- Traubenzucker: 4 Plättchen à 5 g oder 4 Teelöffel à 5 g
- Würfelzucker: 6 Stückchen
- Cola: 200 ml
- Apfelsaft: 200 ml (Danne 2016)
Ist der Patient wegen etwaiger Begleiterkrankungen nicht zu einer oralen Aufnahme in der Lage, empfiehlt sich die parenterale Behandlung mit einer Glukoseinfusion (Kasper 2015).
- 1. b Schwere Hypoglykämie: Bei schweren Hypoglykämien sind 40 ml 40 %iger Glukose rasch i. v. zu injizieren, anschließend eine Infusion mit 5 % iger Glukose bis ein BZ von ca. 200 mg / dl erreicht werden kann.
Falls eine i. v. Gabe nicht möglich sein sollte, weil z. B. der Patient durch einen Laien erstversorgt wird oder durch die Unterzuckerung aggressiv reagiert, kann 1 mg Glukagon i. m. oder s. c. injiziert werden (Herold 2020). Sobald der Patient in der Lage ist, Nahrung zu sich zu nehmen, sollte dies erfolgen, da durch Glukose die Plasmaglukosekonzentration nur kurzfristig erhöht werden kann (Kasper 2015).
Der Patient sollte nach Erreichen einer stabilen Stoffwechsellage unmittelbar psychiatrisch weiterbehandelt werden.
Verlauf/Prognose
Hypoglykämien – gleich welcher Ursache - können unbehandelt zum Koma, zu Krämpfen und zum Tod führen (Haak 2018).
Hinweis(e)
Eine durch Sulfonylharnstoff indizierte Hypoglykämie kann über Stunden und sogar über Tage anhalten. Dies sollte bei den therapeutischen Maßnahmen bedacht werden (Kasper 2015).
Literatur
- Berlit P (2005) Therapielexikon Neurologie. Springer Verlag Heidelberg / Berlin 660
- Cruz P (2020) Inpatient Hypoglycemia: The Challenge Remains. J Diabetes Sci Technol. 14 (3) 560 – 566
- Danne T et al. (2016) Kompendium pädiatrische Diabetologie. Springer Verlag Berlin / Heidelberg 298
- Haak T et al. (2018) S3-Leitlinie Therapie des Typ-1-Diabetes. AWMF-Registernummer: 057-013
- Herold G et al. (2020) Innere Medizin. Herold Verlag 511, 748
- Kasper D L et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 2430 – 2435
- Krebs M (2018) Abklärung bei Verdacht auf endogene Hyperinsulinämie: SOP Hungerversuch. J. Klin. Endokrinol. Stoffw. 11, 61 – 63. https://doi.org/10.1007/s41969-018-0027-6
- Niederau C et al. (2021) Klinikleitfaden Labordiagnostik. Elsevier GmbH Tab. 7.9
- Thomas L (2005) Labor und Diagnose: Indikation und Bewertung von Laborbefunden für die medizinische Diagnostik. TH- Books Verlagsgesellschaft mbH Frankfurt / Main 218
- Tiller F W et al. (2005) Das klinische Labor. Ecomed Medizinverlag 149