HämaturieR31
Synonym(e)
Erstbeschreiber
Im Jahre 1853 wies Teichmann als Erster Hämoglobin als salzsaures Hämatin im Urin nach (Guder 1989). 1858 beschrieb Heller einen Test zum Nachweis von Hämoglobin im Urin durch Alkalisieren und Erhitzen des Urins. Die noch heute gebräuchliche Benzidinprobe wurde 1904 von R. und O. Adler (Guder 1989) eingeführt und drei Jahre später die Konzeption des noch heute gebräuchlichen Teststreifens entwickelt (Hofmann 2001).
Addis untersuchte 1926 erstmals im Sammelurin von 74 gesunden Medizinstudenten Zellausscheidungen und legte damit die Grundlagen für die Definition einer Hämaturie fest. Er fand durchschnittlich 131.500 Erythrozyten pro Tag, 645.000 Leukozyten und 2.080 Zylinder. Diese Ergebnisse wurden später auch durch andere Untersucher bestätigt (Guder 1989). 1982 beschrieben Fairley und Birch eine einfache Methode der Phasenkontrastmikroskopie zum Nachweis der glomerulären Genese einer Hämaturie. Sie nannten die typischen Veränderungen der Erythrozyten „Dysmorphismus“ (Kuhlmann 2015)
Definition
Unter einer (signifikanten) Hämaturie versteht man das mehrmalige Vorkommen von Erythrozyten im Urin (2 von 2 oder 3 Urinproben positiv), die das physiologische Ausmaß von ≤ 5 Erythrozyten / µg Urin überschreiten (Kasper 2015 / Bald 2012).
Einteilung
Man teilt die Hämaturie in unterschiedliche Kategorien ein:
1. nach Schmerzempfinden:
- dolent
- indolent (Herold 2020)
2. nach einer Mikro- und Makrohämaturie:
- Mikrohämaturie:
- da diese mit bloßem Auge nicht erkennbar ist, erscheint der Urin unauffällig
- mikroskopisch finden sich ≥ 3 Erythrozyten / Gesichtsfeld (im sog. „high- power- field“)
- man spricht von einer persistierenden nicht- sichtbaren Hämaturie (NSH) sofern 2 von 2 oder 3 Urin- Schnelltests positiv auf Blut reagieren (Mainz 2019)
- die NSH ist i. d. R. asymptomatisch (Mainz 2019)
- Makrohämaturie:
- die Hämaturie ist mit bloßem Auge erkennbar
- häufig geht diese mit einer Proteinurie einher (Manski (2020)
- es sollte stets eine umgehende Abklärung erfolgen (Herold 2020)
3. nach Ursache der Hämaturie:
- glomeruläre Hämaturie:
- in der Phasenkontrastmittel- mikroskopischen Untersuchung lassen sich > 5 % Akanthozyten nachweisen
- sie finden sich in typischer Ringform mit Ausstülpungen (sog. „Mickymaus- Ohren“)
- nicht- glomeruläre Hämaturie:
- mikroskopisch liegen hierbei iso- oder eumorphe Erythrozyten vor (Herold 2020)
4. nach zeitlichem Auftreten:
- initiale Hämaturie
- eine zur Beginn der Miktion auftretende Hämaturie
- terminale Hämaturie
- eine zum Ende der Miktion auftretende Hämaturie (Manski 2020)
Vorkommen/Epidemiologie
Eine Hämaturie kann in jedem Lebensalter auftreten, selbst bei Säuglingen (Bald 2012). Die Mikrohämaturie tritt im klinischen Alltag bei ca. 4 % - 5 % aller Urinuntersuchungen auf .
Ätiopathogenese
Isolierte Hämaturie ohne Proteinurie:
- Prostatitis
- Urethritis
- Tuberkulose
- Neoplasien
- Trauma
- idiopathisch
- angeborene Anomalie
- Hyperkalziurie
- Hyperurikosurie (Kasper 2015)
- Mikrohämaturie:
- 1. prärenale Ursachen wie z. B.:
- Gerinnungsstörungen
- Thrombozytenfunktionsstörungen
- 2. renale Ursachen wie z. B.:
- Glomerulonephritis
- Pyelonephritis
- Nierenembolie
- Nierenarterienstenose
- interstitielle Nephritis
- Zystenniere
- Nierentuberkulose
- Papillennekrose
- Niereninfarkt
- Markschwammniere
- Nierenzellkarzinom
- 3. postrenale Ursachen wie z. B.:
- Nephrolithiasis der ableitenden Harnwege
- Prostatahypertrophie
- Tumoren der ableitenden Harnwege
- Zystitis
- Endometriose
- Schistosomiasis
(Kasper 2015 / Herold 2020 / Fritze 2008)
Makrohämaturie:
- diese ist arteriellen Ursprungs bei hellrotem Urin
- venösen Ursprungs bei dunkel- bzw. bordeauxrotem Urin
- bei älteren Blutungen dunkelbraun bis schwarzer Urin
- Myoglobinurie durch eine Rhabdomyolyse (sehr selten); der Urin ist rot oder dunkel verfärbt; verursacht werden kann diese z. B. durch Muskeltraumen
- Hämoglobinurie durch eine Hämolyse (ebenfalls sehr selten); der Urin ist ebenfalls rot oder dunkel verfärbt; verursacht werden kann diese durch z. B. hämolytische Krise im Rahmen einer hämolytischen Anämie, Inkompatibilität nach Gabe von Bluttransfusion, lange Märsche, Seifenaborte etc. (Bolenz 2018)
Glomeruläre Hämaturie:
- proliferative glomeruläre Erkrankungen:
- primäre Glomerulonephritiden wie z. B.:
- sekundäre Glomerulonephritiden z. B. im Rahmen von:
- Vaskulitiden
- systemischem Lupus erythematodes
- postinfektiöser Glomerulonephritis (z. B. nach Endokarditis)
- Goodpasture- Syndrom
- essentieller gemischter Kryoglobulinämie
- nicht proliferative glomeruläre Erkrankungen:
- familiär bedingte glomeruläre Hämoglobinurie:
- Alport- Syndrom (autosomal- rezessive Vererbung oder Spontanmutation mit Veränderung der Basalmembran undextrarenalen Symptomen [Nagel 2016])
- SLS (autosomal rezessiv vererbtes Senior- Loken- Syndrom [Briese 2002])
- Nephropathie mit Verschmälerung der glomerulären Basalmembran (TBMN)
Nicht- glomeruläre Hämaturie:
- 16,3 % werden durch ein Steinleiden verursacht
- 4 % durch eine Blutung im Bereich der Prostata
- ca. 3 % treten im Rahmen einer malignen Erkrankung auf
- 2,3 % durch eine Infektion
- 0,9% werden durch eine glomeruläre Nierenkrankheit verursacht
- in ca. 2/3 der Fälle lässt sich eine Ursache nicht eruieren (Mainz 2019)
Initiale Hämaturie:
- Prostata
- Samenwege
- Urethra (Manski 2020)
Terminale Hämaturie:
- Blutung im Bereich des Trigonum vesicae (dreieckiges, faltenfreies, weiß erscheinendes Gebiet der Harnblase zwischen dem Beginn der Urethra und den Einmündungen der Ureteren [Schiebler 2013]) (Manski 2020)
Artifizielle Ursachen wie z. B.:
- Gerinnungsstörungen
- verstärkte körperliche Belastung (sog. „Marsch- Hämoglobinurie“)
- fieberhafte Infekte
- Menstruation
- Münchhausen- Syndrom (Kasper 2015 / Herold 2020 / Fritze 2008)
Urinverfärbungen ohne Nachweis von Erythrozyten durch:
- Heidelbeeren / Brombeeren
- rote Beete
- Lebensmittelfarbstoffe
- chronische Bleivergiftung
Medikamentös bedingt:
- als echte Hämaturie durch z. B.:
- ACE- Hemmer
- Allopurinol
- Cyclophosphamid
- Lithium
- Penicillamin
- als Pseudohämaturie durch z. B.:
- Chinidin
- Chloroquin
- Deferoxamin
- Doxorubicin
- Eisen parenteral
- Ibuprofen (besonders bei Kindern)
- Levodopa
- Methyldopa
- Metronidazol
- Nitrofurantoin
- Phenothiazin
- Phenytoin
- Primaquin
- Rifampicin
- Sulfonamide
- Vitamin B12
- nicht zuordenbar:
- Aminoglykoside
- Cephalosporine
- Furosemid
- orale Kontrazeptiva
- Mesna (2- Mercaptoethansulfonat- Natrium)
- Penicillin sowie deren Abkömmlinge
- Phenazopyridin
- Phenobarbital
- Thiazide (Mainz 2019 / Bald 2012)
Bildgebung
Sonographie: Die Sonographie von Nieren und Harnblase zählt zur Basisdiagnostik einer Hämaturie (Bolenz 2018).
Urethrozystoskopie: Eine Urethrozystoskopie sollte risikoadaptiert erfolgen bei Patienten mit:
- höherem Lebensalter
- männlichem Geschlecht
- Tabakrauchern etc. (Bolenz 2018 / Herold 2020)
CT und 4- Phasen- MSCT: Eine native CT zur weiteren Diagnostik sollte bei Patienten unter 30 Jahren und bei Patienten unter 40 Jahren mit Mikrohämaturie zur Vermeidung höherer Strahlenbelastung durchgeführt werden.
Bei älteren Patienten und generell bei V. a. eine maligne Erkrankung - unabhängig vom Lebensalter - , empfiehlt sich die Untersuchung im 4- Phasen- MSCT (Multi-Slice-Computertomographie), mit der eine komplette Ursachenabklärung der Hämaturie möglich ist. Allerdings ist hierbei die Strahlenbelastung hoch (Töpker 2018).
Labor
Bestimmung der Entzündungsparameter
- Nierenretentionswerte (Bolenz 2018)
- Urinstreifentest: Der Urinstreifentest weist durch die peroxidatische Wirkung von Hämoglobin und Myoglobin eine Mikrohämaturie nach. Zur Differenzierung einer Hämaturie, Hämoglobinurie oder Myoglobinurie ist eine mikroskopische Sedimentuntersuchung erforderlich.
- Sedimentuntersuchungen zur weiteren Differenzierung
Cave: Durch Einnahme hoher Dosen Vit. C kann beim Urinstreifentest ein falsch negatives Ergebnis auftreten.
Mikrohämaturie: Bei einer Mikrohämaturie sprechen für einen glomerulären Ursprung das Vorhandensein von:
- > 5 % Akanthozyten
- Vorhandensein von Erythrozytenzylindern
- Vorhandensein einer deutlichen Albuminurie (> 500 mg / 24h) (Herold 2020)
Diagnose
Sollte der Schnellteststreifen auf Blut positiv sein, empfiehlt sich folgende Diagnostik:
- mikroskopische Untersuchung
- bei Nachweis von Erythrozyten weitere Differenzierung hinsichtlich des Ursprungs:
- renaler Ursprung bei Nachweis von Akanthozyten und Erythrozytenzylinder
- postrenale Blutung bei Nachweis von eumorphen Erythrozyten
- sind keine Erythrozyten nachweisbar, handelt es sich um:
- Myoglobinurie (i. d. R. zusammen mit klarem Serum und CK- Erhöhung)
- Hämoglobinurie (hierbei finden sich rötliches Serum und Hämolysezeichen) (Herold 2020)
- bei Nachweis von Erythrozyten weitere Differenzierung hinsichtlich des Ursprungs:
Sollte eine Rotfärbung des Urins vorliegen, der Schnellteststreifen aber negativ sein, empfiehlt sich folgende Vorgehensweise:
- umgekehrte Aldehydprobe (sog. „Ehrlichsche Aldehydprobe“ [Bob 2001])
- positives Ergebnis = Porphyrie
- negatives Ergebnis = artifizielle Ursachen (s. „Ätiologie“) (Herold 2020)
Eine isolierte Hämaturie bei Kindern findet sie sich nie bei tumorösen Erkrankungen wie z. B. dem Wilmstumor. Von daher ist bei Fehlen einer sonstigen Symptomatik die urologische Abklärung hierbei nicht erforderlich (Bald 2012).
3- Gläser- Probe: Zur näheren Lokalisation einer Blutung im Bereich der unteren Harnwege kann die Drei- Gläser- Probe hilfreich sein. Bei initialer Hämaturie findet sich die Blutungsquelle im Bereich der Urethra oder Prostata, bei terminaler im Bereich der Blase und bei totaler im Bereich der Blase oder supravesikal (Fritze 2008).
Mikrohämaturie: Die Diagnosesicherung einer Mikrohämaturie erfolgt durch zwei positive Urin- Schnelltests einer standardmäßig gewonnenen morgendlichen Mittelstrahl- Urinprobe (Mainz 2019).
Bei Patienten ohne Risikofaktoren (s. w. u.) mit einer asymptomatischen, nicht- glomerulären Mikrohämaturie kann es sich in bis zu 80 % der Fälle um eine sog. idiopathische, konstitutionelle Hämaturie ohne Krankheitswert handeln.
Bei Patienten mit Risikofaktoren wie z. B.: höheres Alter, männliches Geschlecht, Tabakrauchen etc. sollte jedoch stets eine erweiterte Diagnostik in Form einer Urinzytologie, Urethrozystoskopie und ggf. einer CT erfolgen. Hierbei findet sich in 15 % keine Ursache der Mikrohämaturie (Herold 2020).
Makrohämaturie: Jede Makrohämaturie sollte umgehend abgeklärt werden (Manski 2020). Die Diagnosesicherung erfolgt über den quantitativen und qualitativen mikroskopischen Nachweis von Erythrozyten (Bolenz 2018).
Bei niedrigem pH- Wert des Urins färbt sich nach längerem Stehen Hämatin an, welches den Urin kaffeebraun erscheinen lässt (Herold 2020).
Therapie
Die Behandlung einer Hämaturie ist abhängig von der jeweiligen Ursache.
Verlauf/Prognose
Die Prognose ist ebenfalls abhängig von der jeweiligen Ursache.
Literatur
- Bald M et al. (2012) Kurzlehrbuch Pädiatrie. Georg Thieme Verlag 351 - 352
- Bob A und K (2001) MLP Duale Reihe: Innere Medizin. Sonderausgabe. Thieme Verlag 1158
- Bolenz C et al. (2018) Abklärung der Hämaturie. Dtsch Arztebl Int (115) 801 – 807
- Briese S C (2002) Physikalische Kartierung eines Genorts für das Senior-Løken Syndrom (SLS) auf Chromosom 15q22-q26. Inaugural- Dissertation zur Erlangung des Medizinischen 9 Doktorgrades der Medizinischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.
- Fritze J et al. (2008) Die Ärztliche Begutachtung: Rechtsfragen, Funktionsprüfungen, Beurteilungen. Steinkopff Verlag 194
- Guder W G et al. (1989) Pathobiochemie und Funktionsdiagnostik der Niere. Merck-Symposium der Deutschen Gesellschaft für Klinische Chemie Würzburg, 19.- 21. Oktober 1989. Springer-Verlag 8 - 11
- Herold G et al. (2020) Innere Medizin. Herold Verlag 601 – 602
- Hofmann W et al. (2001) Harnuntersuchungen zur differenzierten Diagnostik einer Proteinurie: Bekanntes und Neues zu Teststreifen und Harnproteinen. Dtsch Arztebl (98) 12 A: 756 / B: 618 / C: 578
- Kasper D L et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 294, 834 - 835,
- Keller C K et al. (2010) Praxis der Nephrologie. Springer Verlag 170, 194
- Kuhlmann U et al. (2015) Nephrologie: Pathophysiologie - Klinik – Nierenersatzverfahren. Thieme Verlag 41, 48 – 49, 77 – 80
- Mainz A et al. (2019) Nicht sichtbare Hämaturie (NSH). DEGAM S1- Handlungsempfehlung AWMF- Register-Nr. 053- 028
- Manski D (2020) Das Urologielehrbuch. Dirk Manski Verlag 73 – 82, 136 – 139
- Nagel M et al. (2016) Das Alport- Syndrom als wichtige Differenzialdiagnose einer Hämaturie. Nieren- und Hochdruckkrankheiten, (45) 267 - 272
- Schiebler T H et al. (2013) Anatomie: Zytologie, Histologie, Entwicklungsgeschichte, makroskopische undmikroskopische Anatomie des Menschen. Springer Verlag 640
- Töpker M (2018) Schmerzlose Hämaturie: Abklärung mittels Multi- Slice- Computertomographie. Der Radiologe (58) 894 - 899